Das Wörterbuch des Viktor Vau
Schatz des Landes. Ohne Zugang zu den Minen hätte er die Unabhängigkeit gleich wieder vergessen können. Also heuerte er ein paar Leute an, die ihm dabei helfen konnten, die Provinz wieder zurückzuholen.«
»Söldner, meinen Sie.«
»Wenn Sie es so nennen wollen. Aber ist nicht jeder Soldat ein Söldner, wenn er für seinen Job Geld bekommt? Heimat und Vaterland sind doch bloà Phrasen der Regierenden, die sich damit um teure Gefahrenzulagen herumdrücken wollen.«
Viktor betrachtete sein Gegenüber genauer. Unter ihrem Strohhut quollen schulterlange dunkle Haare hervor, die mit grauen Streifen durchzogen waren. Ihr Gesicht wirkte freundlich und zuvorkommend, mit vielen Lachfältchen um Mundwinkel und Augen. Kaum vorstellbar, dass sie jahrelang im Dschungel gekämpft hatte. Aber er hatte sie gerade selbst in Aktion gesehen, und die Leidenschaftslosigkeit, mit der sie seinen Angreifer ausgeschaltet hatte, bewies mehr als alles andere, was hinter dieser so harmlos scheinenden Oberfläche verborgen lag.
»Ich bin übrigens Leslie«, fuhr die Frau fort. »Jetzt müssen wir aber daran arbeiten, wie wir Sie ohne Probleme nach Benké bekommen. Die nächste Station ist nur noch wenige Minuten entfernt.«
Sie ging zum Leichnam hinüber, bückte sich und zerrte den Körper mit bemerkenswerter Kraft bis zum Fenster. Dann zog sie ein Messer aus der Tasche, schnitt das Hemd des Toten auf und begann, mit dem Stoff die Blutlache am Waggonboden aufzuwischen.
Das Ganze geschah mit einer Selbstverständlichkeit, die Viktor erschauern lieÃ. Ihn fröstelte. Er drehte den Kopf in die andere Richtung, nur um wenige Sekunden später erneut auf das Geschehen rund um den Toten zu starren.
Leslie hatte sich über die Leiche gebeugt und leerte die Taschen des Mannes. Sie stopfte den NetPad, einen Revolver und ein Lederetui mit Papieren in ihre Jackentaschen. AnschlieÃend zog sie das Abteilfenster Stück um Stück auf.
Ein Schwall heiÃer, schwüler Luft drang in den Waggon. Leslie warf den blutgetränkten Fetzen hinaus. Dann hob sie den Toten unter den Achseln an, brachte ihn in eine sitzende Position und kippte ihn vornüber nach drauÃen.
»Jetzt wollen wir nur noch hoffen, dass Sie nicht noch jemand erkennt, bis wir unser Ziel erreicht haben«, sagte sie.
Viktor lehnte den Kopf gegen das harte Metall und schloss die Augen.
Er erwachte erst wieder, als der Zug in den Bahnhof von Benké einlief.
6.
Als Viktor und seine Begleiterin aus dem Zug stiegen, war es fast Mittag. Die Hitze traf ihn nach der Zeit in dem klimatisierten Eisenbahnwaggon wie ein Faustschlag. Er zog sein Jackett aus und hängte es sich über den Arm, wobei es ihn zu seiner eigenen Verwunderung nicht bekümmerte, ob er die Falten jemals wieder herausbekommen würde.
Sie bahnten sich einen Weg durch die Menschenmasse auf dem Bahnsteig und betraten das Bahnhofsgebäude, das noch aus der Kolonialzeit stammte. Von den ursprünglich grün gestrichenen Stahlträgern war der Lack fast komplett abgesplittert. Der Rost fraà sich vom Dach aus nach unten vor, und Viktor zog unwillkürlich den Kopf ein. Aus dem gefliesten Boden waren groÃe Stücke herausgebrochen, und überall wucherten riesige Grasbüschel hervor.
Im Bahnhof war es nur unwesentlich kühler als drauÃen. Sie verlieÃen das Gebäude durch die schief hängenden hölzernen Haupttüren und gelangten auf einen staubigen Vorplatz. Hunderte von Menschen drängten sich um ein gutes Dutzend Busse, schoben Koffer, Körbe und Taschen den Helfern auf den Fahrzeugdächern zu, welche diese mit geübten Griffen ordneten, stapelten und mit langen Seilen und Fangnetzen vertäuten.
Ein Mann in einem dunkelblauen Polohemd trat auf die kleine Gruppe zu. Er mochte vielleicht knapp fünfzig Jahre alt sein, schätzte Viktor. Hinter einer randlosen Brille starrten ihn zwei furchtsame Augen an.
»Professor Vau?«, fragte der Mann.
Viktor nickte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Leslie ihre Hand in die Tasche gleiten lieÃ.
»James Malango. Professor Volante bat mich, Sie hier zu treffen.«
Sie schüttelten sich die Hand. Viktor stellte seine Begleiterin nicht vor, und Malango fragte auch nicht danach. Leslie hatte die Hand wieder von der Waffe genommen.
»Wie mir Professor Volante berichtet hat, müssen Sie unerkannt das Land verlassen. Das ist zwar
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