Das Wörterbuch des Viktor Vau

wird gemunkelt, graben sogar systematisch nach den Knochen. Sie schaben das Fleisch ab, lassen die Knochen von Kindern putzen, polieren und feilen und verkaufen sie dann als Halsschmuck oder Briefbeschwerer oder ganz einfach als Schreibtischdekoration.«
    Viktor schüttelte den Kopf. »Afrika, der verlorene Kontinent …«
    Â»Nein, Professor«, widersprach sie. »Wir Europäer sollten uns nicht so überlegen anstellen. Wenn Sie wüssten, was damals im Kaukasus los war …«
    Viktor beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Leslie konnte nicht viel jünger sein als er, aber ihre Lebenswelten lagen meilenweit auseinander.
    Â»Wie kommt es …«, begann er.
    Â»â€¦Â dass ich als Frau so einen Job mache?«, vervollständigte sie seine Frage. »Ganz einfach, weil ich gut darin bin.«
    Â»Sie reisen also von einem Kriegsgebiet ins nächste und lassen sich dafür bezahlen, Ihren Kopf hinzuhalten?«
    Â»Das klingt viel dramatischer, als es ist, Professor. Und was die Kriege betrifft, das liegt lange zurück. Inzwischen übernehme ich nur noch Aufgaben im Personenschutz.«
    Â»Und was ist mit einer Familie? Mit einem Mann, Kindern, einem festen Wohnsitz?«
    Sie blickte ihn prüfend an. »An Ihrer Hand sehe ich auch keinen Ehering.«
    Â»Nun ja, es hat sich nicht ergeben«, räumte er ein. »Ich glaube, ich bin eher ein Einzelgänger.«
    Â»Ich ebenfalls. Obwohl ich zugeben muss, dass ich es einmal versucht habe, sesshaft zu werden. Ein Fiasko. Nach einem halben Jahr hat es mich wieder hinausgezogen.«
    Â»Was reizt Sie denn so an Ihrem … Beruf?«
    Leslie lachte. »Das kann jemand wie Sie wahrscheinlich nur schwer verstehen. Im Gegensatz zum landläufigen Vorurteil bin ich kein blutrünstiges Monster und habe auch keinen besonderen Spaß daran, Leute umzubringen. Im Gegenteil, ich habe in den letzten drei Jahrzehnten wahrscheinlich mehr Menschen das Leben gerettet als die meisten Ärzte in ihrer gesamten Berufslaufbahn.«
    Sie bemerkte Viktors skeptischen Blick. »Sie müssen das so sehen, Professor: Ich rücke ins Chaos ein und stelle die Ordnung wieder her.«
    Â»Und wenn Sie abziehen, kehrt das Chaos wieder zurück.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Das ist das Leben. Aber für einen Augenblick habe ich den Lauf der Welt verändert. Und das ist mehr, als die meisten Menschen von sich sagen können.«
    Viktor schwieg einen Moment. »Dafür zahlen Sie einen hohen Preis«, sagte er schließlich.
    Â»Das finde ich nicht. Ich bekomme Geld für das, was ich gern mache. Wer kann das schon von sich behaupten?«
    Â»Aber Ihr Leben hat keinerlei Konstanten, keinen Fixpunkt, auf den Sie sich zurückziehen können. Es ist genauso chaotisch wie die Zustände, die Sie zu ändern versuchen.«
    Sie lächelte. »Für mich bedeutet das, was Sie als Chaos bezeichnen, die Essenz des Lebens. Ich lerne immer wieder neue Länder und neue Menschen kennen, werde vor neue Herausforderungen gestellt. Und natürlich ist nicht alles schön. Die Schattenseiten, das Elend, dem ich begegne, die unbefriedigenden Liebschaften? Das gehört dazu, so wie die Nacht zum Tag. Wenn ich einmal sterbe, weiß ich wenigstens, dass ich gelebt habe.«
    Leslie ließ den Kopf ins Polster zurücksinken. »Ich werde die Fahrt nutzen, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Sie sollten dasselbe tun.«
    Bevor er etwas antworten konnte, hatte sie die Augen geschlossen und war eingeschlafen.
    7.
    Als Viktor und Leslie vor dem Rathaus von Tambo aus dem altersschwachen Bus kletterten, fiel ihm auf, dass er keinen Himmel sehen konnte. Der Ort lag unter einer dunkelgrauen Dunstglocke, obwohl es früher Nachmittag war und der Bus vor einer knappen halben Stunde noch unter einem wolkenlosen blauen Himmel von Schlagloch zu Schlagloch gehüpft war.
    Â»Nicht weit von hier liegen die Pinidium-Minen«, erklärte die Frau, die Viktors erstaunten Blick bemerkt hatte. »Um das Metall aus dem Fels herauszulösen, ist ein komplizierter Schmelzprozess notwendig. Das Ganze ist eine extrem dreckige Angelegenheit. Das kriegen Sie heute nur noch in Afrika oder in einem der kleinen Kaukasusstaaten durch. Die durchschnittliche Lebenserwartung in dieser Gegend liegt bei neununddreißig Jahren.«
    Â»Und die Regierung nimmt das hin?«, fragte Viktor.
    Leslie lachte freudlos. »Was meinen Sie, mit