Das Wörterbuch des Viktor Vau
frühester Kindheit waren Unsicherheit und Unklarheit für ihn das Schlimmste, das er sich vorstellen konnte. Er war ein sehr zurückgezogenes Kind gewesen, in dessen Zimmer nie auch nur ein Hauch von Unordnung herrschte. Natürlich hatten seine Eltern ihn von einem Psychiater untersuchen lassen, der eine milde Form von Autismus diagnostiziert hatte. Für seinen Vater war dieser Befund eine Katastrophe, stand er doch den groÃen Plänen, die er für seinen Sohn gehabt hatte, entgegen. Viktors Familie gehörte schon seit Jahrzehnten zur Dynastie. Es war eine Familientradition, dass der älteste Sohn in die FuÃstapfen des Vaters trat. Für Viktor hätte das bedeutet, Verwaltungsrecht zu studieren und in den höheren Ministerialdienst einzutreten.
Nach der psychiatrischen Untersuchung zerplatzten diese Träume wie Seifenblasen. Eine führende Position in der Dynastie war mit Improvisation, intensiver Kommunikation mit anderen sowie hoher Anpassungsfähigkeit verbunden, alles Eigenschaften, die für Viktor ein Fremdwort waren. So trat zum ersten Mal in der Geschichte seiner Familie der zweitgeborene Sohn die Nachfolge des Vaters an, während der Ãlteste die Wahlfreiheit genoss, die sonst dem jüngeren Bruder zustand.
Viktor war über diese Entwicklung nicht unglücklich. Für ihn war sein Zustand keine Krankheit, sondern die Essenz seines Daseins. Seine Welt war von der der anderen zwar nicht hermetisch abgeriegelt, so wie bei schweren Fällen von Autismus, aber dennoch für die meisten Menschen so fremd, dass sie keinen dauerhaften sozialen Kontakt zu ihm unterhielten. Das betraf auch die Frauen.
Viktor hatte zwar dieselben Bedürfnisse wie andere Männer auch, aber er begriff von vornherein, dass sie unvereinbar waren mit seiner Grundhaltung zum Leben. Vielleicht würde es ihm eines Tages beschieden sein, ein weibliches Pendant zu finden, doch bis dahin begnügte er sich mit Selbstbefriedigung und einem gelegentlichen Besuch im Bordell, obwohl auch das Probleme aufwarf. Der Sexualakt unterlag, wie alle seine Handlungen, strikten GesetzmäÃigkeiten, und dafür benötigte er eine Frau, die diese kannte und sich darauf einstellte. Das erwies sich als schwierig, und als er nach etlichen für ihn unerfreulichen Versuchen endlich eine Hure gefunden hatte, die seinen Vorstellungen entsprach, verlieà diese nach einigen Monaten die Stadt und kehrte nicht mehr zurück. Von da an verzichtete er ganz auf solche Ausflüge und sublimierte die Reste seines Sexualtriebs in seiner Arbeit.
Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es war endlich Zeit, zum Bahnsteig zu gehen.
5.
Der Zug nach Benké lief ein, gezogen von einer mächtigen Diesellok, die mit einem synthetischen Derivat betrieben wurde. Viktor bestieg den Erste-Klasse-Waggon, der aus einem durchgehenden Abteil mit Aluminiumbänken, die im Boden befestigt waren, bestand. Wenn dies die erste Klasse war, wie mochte es dann wohl in der zweiten aussehen? Ob es dort nur Stehplätze gab?
Der Waggon war völlig leer. Irgendwo brummte eine Klimaanlage, und es war angenehm kühl im Inneren. Er lieà sich auf eine der harten Bänke sinken und hoffte, es würde so bleiben. Je weniger Menschen ihn sahen, umso besser. Doch seine Hoffnungen erfüllten sich nicht.
Nach ihm stiegen noch zwei weitere Personen in den Wagen ein, eine ältere Frau, die am anderen Ende Platz nahm, und ein Mann in den Vierzigern, der wie ein Handelsvertreter aussah und sich nach dem Setzen sofort mit einem NetPad beschäftigte.
Der Zug verlieà langsam den Bahnhof. Viktor schloss die Augen und lehnte sich zurück. Er spürte, wie ihm der Schweià den Nacken herunterlief. Seit über zwölf Stunden hatte er nicht mehr geduscht, was für ihn normalerweise undenkbar war, und seine Kleidung klebte ihm am Körper. Die Tasche, die er in aller Eile für seine Flucht gepackt hatte, enthielt neben Unterwäsche und einem Hemd keine weiteren Kleidungsstücke. Er würde sich also damit abfinden müssen, in den kommenden Tagen wie ein Stadtstreicher herumzulaufen.
Viktor wusste nicht, wie lange er so in Gedanken versunken gesessen hatte, als jemand an seiner Schulter rüttelte. Er schreckte auf. Vor ihm stand der Vertreter und lächelte ihn an. Er hatte blitzend weiÃe Zähne und kalte blaue Augen, die nicht mitlächelten. An der rechten Seite seiner Stirn prangte eine relativ frische
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