Das Wolfsgen - Maximum Ride ; 2
mitten am Tag zu fliegen. Aber heute war ein besonderer Tag. Heute brachten wir Iggy zu seinen Eltern. Seinen echten Eltern.
Ich hatte keine Ahnung, was geschehen würde. Es konnte ein Tag voll Glück für Iggy werden. Das würde uns anderen das Herz brechen, weil wir uns dann von ihm verabschieden mussten. Es war für mich so schmerzlich, dass ich es gar nicht begreifen konnte.
Über Annes Angebot, uns zu adoptieren, hatten wir gar nicht gesprochen. Wir hielten es nicht einmal für nötig, darüber nachzudenken. Ich fragte mich, ob die jüngeren Kinder anders dachten. Früher oder später würde ich es herausfinden. Wahrscheinlich früher.
Vierzig Minuten später standen wir dem Haus gegenüber, zu dem Fang und ich vor etlichen Tagen geflogen waren. Es war Samstag. Wir hofften, dass sie beide daheim waren.
»Bist du bereit?«, fragte ich Iggy und nahm seine Hand. Ich konnte all das nur durchstehen, indem ich nicht an das große Bild dachte. Ich vermochte nur einen Schritt nach dem anderen zu tun.
Iggy nickte. Seine leeren Augen starrten stur geradeaus, als würde er das Haus seiner Eltern plötzlich sehen, wenn er nur angestrengt genug hinschaute.
»Ich habe Angst«, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich drückte seine Hand und flüsterte zurück: »Na klar hast du Angst. Aber ich glaube, wenn du das jetzt nicht tust, würdest du dir für den Rest des Lebens Vorwürfe machen.«
»Ich weiß. Ich weiß, dass ich das tun muss. Aber …«
Mehr musste er nicht sagen. Vor vierzehn Jahren hatten seine Eltern ein perfektes kleines Baby verloren. Jetzt war Iggy ein Meter achtzig groß, blind und ein »genetischer Hybrid«, wie die freundliche Umschreibung lautete.
Er schüttelte den Kopf und straffte die Schultern. »Los, ziehen wir es durch.«
Wir sechs überquerten die Straße. Es war ein wenig bewölkt, und der Wind war kalt. Ich zog Angels Jacke ein wenig enger ums Kinn und steckte ihren Schal fest. Sie schaute mich aus ihren blauen Augen ernst an. Darin las ich die gleiche Hoffnung und Angst, die wir alle fühlten.
Ich klingelte an der Haustür. Wir waren so angespannt, dass die Klingel für uns wie ein mächtiger Gong klang. Wenige Minuten später öffnete sich die Tür. Dieselbe Frau wie beim letzten Mal schaute mich an. Sie runzelte die Stirn, als würde sie mein Gesicht kennen, wüsste aber nicht mehr woher.
»Äh, hallo Ma’am«, begann ich höflich. »Ich habe Sie vorige Woche im Fernsehen gesehen, wo Sie gesagt haben, dass Sie Ihren Sohn verloren hätten.«
Ein Hauch von Traurigkeit überflog ihr Gesicht. »Ja?«
Ich trat zurück, sodass sie Iggy sehen konnte. »Ich glaube, er ist es.«
Okay, Feingefühl ist nicht gerade meine Stärke.
Eine Sekunde lang überlegte die Frau, ob sie auf mich wütend werden sollte, weil ich Salz in ihre Wunden streute, doch dann schaute sie Iggy an und schaute verwirrt drein.
Jetzt, als ich beide zusammen sah, war die Ähnlichkeit noch unverkennbarer. Beide hatten den gleichen Körperbau, die helle Haut mit Sommersprossen, die gleichen Wangenknochen und das Kinn. Die Frau blinzelte. Ihr Mund stand offen, aber es kam kein Wort heraus. Sie legte die Hand auf die Brust und starrte Iggy an. Ich drückte noch mal Iggys Hand – er hatte ja keine Idee, was geschah, und musste in schmerzlicher Spannung warten.
Dann tauchte der Mann auf. Die Frau trat zurück und deutete stumm auf Iggy. Obwohl Iggy der Frau sehr ähnlich sah, hatte er auch einige Züge des Mannes. Sie hatten die gleiche Nase und die gleiche Mundform. Der Mann starrte Iggy an. Dann blickte er fragend uns an.
»Was …?«, fragte er verblüfft.
»Wir haben Sie letzte Woche im Fernsehen gesehen«, erklärte ich. »Wir glauben, das könnte Ihr Sohn sein, den Sie vor vierzehn Jahren verloren haben.« Ich hakte Iggy unter und zog ihn ein Stück vorwärts. »Wir nennen ihn Iggy. Aber sein Nachname ist Griffiths, wie Ihrer.«
Iggy wurde rot und senkte den Kopf. Ich fühlte fast, wie sein Herz hämmerte.
»James?«, flüsterte die Frau und streckte die Arme nach Iggy aus. Doch dann schaute sie ihren Mann an. »Andy, ist das James?«, fragte sie zögernd.
Der Mann schluckte und trat von der Tür zurück. »Bitte, kommt rein, alle.«
Erst wollte ich nicht – wir gingen nie in fremde Häuser, weil wir Angst hatten, gefangen zu werden. Aber vielleicht würde Iggy für immer in diesem Haus leben. Und wenn es eine Falle war, dann sollten wir das am besten gleich herausfinden.
Ich schluckte und sagte:
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