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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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verschlossen, und es gab keinen anderen Weg dort hinein.
    Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die unnatürlichen Bewegungen des Waldes. Sie hatte oft vom Rand der Insel in die Ferne geschaut, hinab in die Tiefe, aber der Blickwinkel war von dort aus viel flacher gewesen als von diesem Steg aus. Sie sah, dass hier etwas anders war, vermochte aber nicht genau zu sagen, was. Der Anblick der Baumkronen erinnerte sie an eine aufgebrachte Menschenmenge, an ein Drängen und Schieben in verschiedene Richtungen, mal in diese, mal in jene.
    » Sind das die Bäume selbst? «, fragte sie skeptisch.
    » Ich glaube nicht. « Der Schattendeuter rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augenlider. Als er sie wieder öffnete, waren die Augäpfel blutunterlaufen.
    » Du solltest schlafe n «, sagte sie besorgt.
    Er hörte es gar nicht. » Eher etwas, das in den Bäumen lebt. Wie Vögel. Oder Affen. «
    Sie wusste, was Affen waren, aber ihr verbotenes Wissen stammte aus Büchern, die sie angeblich gar nicht lesen konnte. Niccolo hatte sie durchschaut, und auch deswegen mochte sie ihn nicht. Und, verdammt, warum hatte er sie nicht mitgeno m men? Nur weil sie ihn früher nicht beachtet hatte? Was hatte er denn erwartete? Er war ein Bauerntölpel!
    Das war er einmal, verbesserte sie ihre innere Stimme, ehe dein Vater ihn ausgewählt hat, um euch alle zu retten. Auch um dich zu retten.
    Ihr Blick folgte einer besonders heftigen Woge von Bewegu n gen zu einem der Berghänge. Er gehörte zu einem der drei Gipfel, die die Wolkeninsel festhielten. Tausend Meter über dem Erdboden und ein paar hundert Schritt oberhalb der Baumgrenze steckte die Heimat des Volks der Hohen Lüfte fest wie ein Stück Treibgut zwischen Meeresklippen.
    » Es bewegt sich auf uns z u «, stellte sie fest.
    Der Schattendeuter sah es ebenfalls und stieß ein halb ve r schlucktes Keuchen aus. » Das könnte Zufall sein. «
    » Sieh doch hin! « Sie unterdrückte die aufsteigende Panik in ihrer Stimme. » Es sieht aus, als hätten sich die Bewegungen der Baumkronen jetzt für eine Richtung entschieden! « Genau genommen für drei Richtungen, dachte sie schon im nächsten Moment.
    Bald gab es keinen Zweifel mehr.
    » Du hast Rech t «, presste der Schattendeuter hervor. Seine Hände krallten sich um das Geländer. » Deine Au gen sind jünger und sehen besser als meine. Vielleicht hätte ich es schon vorher bemerken müssen … «
    Sie schüttelte den Kopf. » Bis eben war es noch ein einziges Durcheinander. Aber jetzt bewegen sich die Baumkronen in die Richtung der drei Gipfel! «
    Es sah aus, als wären gleichzeitig drei Stürme aus unterschie d lichen Richtungen in die dichte Decke des Waldes gefahren und kämmten nun die Äste vom Zentrum des Tals her auseinander. Ein Drittel beugte sich nach Norden, eines nach Süden, das letzte nach Südosten. Was für Wesen auch immer dort unten von Baum zu Baum stürmten, sie hatten sich in drei Gruppen aufgeteilt. Jede wogte nun auf einen der Berge zu.
    » Sie haben erkannt, wo wir den Boden berühre n «, murmelte der Schattendeuter.
    » Und wo sie uns erreichen können! « Alessias Stimme klang zu schrill. Sie hasste es, wenn das geschah. Mühsam fand sie zurück zu etwas, das herzoglicher Beherrschung zumindest nahe kam. » Sie wollen zu uns! Die Berge hinauf und von dort aus zur Wolkeninsel … Glaubst du, sie werden uns angreifen? «
    » Wir wissen ja nicht einmal, wer oder was sie sind. « Er zöge r te einen Augenblick. » Alessia? «
    Sie rannte den Steg entlang.
    » Alessia! «
    Aber sie drehte sich nicht um. Einen Augenblick später e r reichte sie die beiden Wächter.
    » Der Schattendeuter hat eine Botschaft für meinen Vate r «, rief sie den Männern zu. » Überbringt sie ihm so schnell wie mö g lich! «
    Einer der Männer nickte und eilte über den Steg au f C arpi zu, um die Nachricht in Empfang zu nehmen. Der andere sah Alessia verwundert an. » Braucht Ihr Hilfe? « Sie schüttelte den Kopf, sprang auf ihr Pferd und galoppierte über die Wolken nach Norden.
    * * *
    Das Gehöft der Spinis war verlassen. Der alte Mann, dem Niccolo seine Schweine und Kühe anvertraut hatte, hatte die Tiere auf seinen eigenen Hof getrieben und dort in den Stallu n gen untergestellt.
    Alessia ließ die Gebäude links liegen. Sie zügelte den Rappen ein gutes Stück vor der Wolkenkante, ehe seine Hufe auf abschüssiges Terrain geraten konnten.
    Vor ihr wuchs die dunkle Felswand empor wie eine Mauer, die jemand am Rand der

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