Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
gestatteten.
    Die Wächter am Beginn des Steges hatten Alessia nur vorg e lassen, weil sie die Tochter des Herzogs war. Genau genommen aber besaß nicht einmal sie die Befugnis, hierher zu kommen. Das war allein dem Schattendeuter erlaubt. Dies war sein Reich. Selbst der Herzog bat um Erlaubnis, bevor er einen Fuß auf diese Planken setzte.
    Alessia sah den Schattendeuter allein dort draußen ste hen, eine Gestalt in flatternden dunklen Gewändern. Raue Aufwinde fuhren in den Stoff und gaben seiner Silhouette die Anmutung einer Krähe, die sich jeden Augenblick in die Luft erheben mochte.
    Seit vielen Jahren erstellte der Schattendeuter Oddantonio Carpi dort draußen seine Prophezeiungen. Tagelang beobachtete er den Schatten der Wolkeninsel in der Tiefe, sah zu, wie sich seine Form wandelte, während sich neuer Dunst an den Rändern der Insel ansammelte oder der Gegenwind lose Teile davonriss. Auch die Beschaffenheit des Erdbodens hatte Einfluss auf den Umriss des Schattens; Berge oder Hügel machten ihn unruhig und flatterig, während Ebenen oder gar Meere die Form der Wolkeninsel solide und unveränderlich erscheinen ließen.
    Der Schattendeuter drehte sich erst um, als Alessia ihn fast erreicht hatte. Er musste die Erschütterung des Steges lange vorher wahrgenommen und ihre Schritte gehört haben. Als sie in sein Gesicht blickte, begriff sie, warum ihm das, was er dort draußen sah, wichtiger gewesen war als die Empörung über ihr Auftauchen.
    Oddantonio Carpi war leichenblass, seine düsteren Augen noch tiefer in den knochigen Schädel gesunken. » Du solltest nicht hierher komme n «, sagte er. Aber es klang nicht wütend, nicht einmal wie eine Ermahnung.
    » Was geschieht dort unten? «, fragte sie. » Man kann die Schreie auf der ganzen Insel hören. « Das war einer der Gründe, weshalb sie hier war. Ein anderer war, dass sie die endlosen Versam m lungen auf dem Hof ihres Vaters nicht mehr ertrug; das Flehen der Bittsteller, deren Häuser zerstört worden waren; das G e jammer der Ratsmitglieder. Die Vorstellung, dass ihr das alles selbst einma l b evorstand – vorausgesetzt, Niccolo kehrte mit dem Aether zurück –, lag wie ein Gewicht auf ihren Schu l tern, und selbst in Anbetracht der Katastrophe, die ihnen drohte, schreckte sie der Gedanke an eine solche Tristesse.
    Der Schattendeuter holte tief Luft, dann rückte er resigniert ein Stück zur Seite. Alessia zwängte sich neben ihm ans Geländer. Obgleich Carpi hager war wie ein Gerippe, bot das Stegende kaum Platz für sie beide. Sie spürte seinen knochigen Leib unter dem schwarzen Gewand und schauderte.
    Tausend Meter unter der Wolkeninsel erstreckte sich dichter Wald, wucherte viele Kilometer weit in alle Richtungen, ehe er auf die Hänge der hohen Berge traf, dort allmählich ausdünnte, um schließlich weiter oben in grauen Fels überzugehen. Die Leere zwischen dem Rand der Wolkeninsel und dem grünbra u nen Erdboden war schwindelerregend, aber nicht einmal sie war es, die Alessia den Atem raubte.
    Etwas bewegte sich dort unten. Nicht an einer Stelle, nicht an einem Dutzend. Der gesamte Wald schien in Bewegung, ein Schütteln und Rütteln in den Baumkronen, ein Neigen und Biegen und Bersten.
    » Der Wind? «, fragte sie zögernd, kannte aber bereits die Antwort.
    » Das da unten ist kein Wind. « Der Schattendeuter hatte die Hände fest um das Geländer geklammert, obgleich er doch mehr Zeit am Abgrund verbrachte als jeder andere und ganz gewiss keine Höhenangst kannte.
    » Was ist es dann? «
    » Ich weiß es nicht. «
    » Was sagen die Schatten? «
    » Sie sind schwer zu lesen, seit wir zwischen diesen Bergen feststecken. Alle losen Dunstschwaden haben sich gelöst, nur der massive Teil der Insel ist übrig geblieben. Seitdem verändert sich unser Schatten am Boden nicht mehr. Er liegt leblos da, wie tot. Wären da nicht die Tageszeiten, die ihn von Westen nach Osten schieben, könnte man meinen, die Bäume würden ihn festhalten. «
    Er klang müde, und Alessia fragte sich, ob er seit Niccolos Aufbruch überhaupt geschlafen hatte. Sie selbst hatte kaum Ruhe gefunden, ebenso wie ihr Vater. Doch während der Herzog mit der Entscheidung haderte, ob er wirklich den Richtigen ausgesandt hatte, hatte Alessia die Antwort darauf längst gefunden. Sie beschäftigte allein die Frage, wie sie am besten den Erdboden erreichen konnte, um sich selbst auf die Suche nach dem Aether zu machen. Doch ihr Vater hielt den Eingang zur Halle der Luftschlitten fest

Weitere Kostenlose Bücher