Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
Ginkobäume. Vom Hang eines Berges aus überschaute es einen lang gestreckten Talkessel; bei näherem Hinschauen handelte es sich um eine ganze Kette von Tälern, die sich in engen Kurven in nordwestlicher Richtung aneinander reihten. Nebel stieg zwischen den Baumwipfeln auf.
Der kaiserliche Trampelpfad verlief an der Herberge vorbei bergab, aber Niccolo zückte seinen Beutel mit Silber und verkündete, dass sie hier einkehren und sich ein üppiges Mahl genehmigen würden. Sogar Nugua, die normalerweise allen Anzeichen menschlicher Zivilisation misstraute, war merklich erfreut über die Aussicht auf ein Essen, das aus mehr bestand als Pilzen und Beeren.
Bevor sie das Gasthaus betraten, hielt Feiqing die beiden noch einmal zurück. » Falls wir im Inneren einem Mönch begegnen, bitten wir ihn, uns zu begleite n «, sagte er zu Niccolo. » Falls aber keiner da ist, dann rede ich nie wieder ein Wort davon. Einve r standen? «
Niccolo beäugte argwöhnisch die Tür. Man konnte unmöglich ins Innere sehen, und er fragte sich, ob Feiqing ihn hereinlegen wollte. Aber es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, dass sich dort drinnen tatsächlich ein Mönch aufhielt.
» Das ist ein Tric k «, behauptete er.
Feiqing schüttelte den Kopf. » Kein Trick. « Er streckte Niccolo seine Pranke entgegen. » Schlag ein. «
Niccolo ergriff zweifelnd einen der riesigen Finger des Ra t tendrachen und schüttelte ihn; er war so dick, dass er seine ganze Hand ausfüllte.
Sie betraten das Gasthaus und fanden den Schankraum me n schenleer – mit Ausnahme einer einzigen Gestalt, di e a n einem Tisch in der gegenüberliegenden Ecke saß, weit vorgebeugt, den kahl rasierten Kopf auf die Arme gelegt. Der Mann schien zu schlafen. Vor ihm standen ein Tonbecher und drei Krüge. An der Wand lehnte ein Wanderstab; ein silbernes Glöckchen schimmerte an seinem oberen Ende.
Niccolo stöhnte. » Woher hast du das gewusst? «
» Ich hab dir doch gesagt, dass du keine Ahnung hast von chinesischen Mönchen. « Feiqings Grinsen war jetzt so breit wie der Halbmond, der selbst zur Mittagszeit noch blass in einer Senke zwischen den schroffen Bergen hing. » Man findet in jedem Gasthaus einen, wenn nicht gar zwei oder drei. Und erst recht in einer so abgelegenen Gegend wie dieser. Ich wette mit dir, er ist sturzbetrunken vom vielen Reiswein. Später wird er behaupten, er habe den ganzen Tag meditiert. « Feiqing lac h te. » Wahrscheinlich hat er eine Hütte irgendwo in der Nähe. Chinas Berge sind voll von Einsiedlern, die hier draußen vergeblich nach der letzten Wahrheit suchen und irgendwann glauben, sie auf dem Grund eines Weinkrugs aufstöbern zu können. «
Nugua spähte voller Misstrauen in jeden Winkel des verlass e nen Schankraums. Während zwischen Niccolo und Feiqing ein Streit darüber entbrannte, ob es wohl sinnvoll sei, sich einen Säufer als Begleiter aufzuhalsen – Segen des Himmels hin oder her –, trat das Drachenmädchen ein paar Schritte tiefer in den Raum und sah sich um.
» Niccol o «, sagte sie leise. » Feiqing. «
Die beiden zankten noch heftiger und beachteten sie nicht.
» He y «, sagte sie ein wenig lauter.
Feiqing referierte gerade mit erhobenem Zeigefinger über Wert und Unwert geistlicher Weggefährten. Niccolo raufte sich mit einer Hand das Haar und stützte sich mit der anderen auf eine Tischkante, als übersteige Feiqings Eigensinn sein Be g riffsvermögen.
Nugua blickte finster über die Schulter. » Würdet ihr wohl aufhören! «
Beide verstummten.
» Fällt euch nichts auf? «, fragte sie.
» Was denn? «
Nugua zog langsam ihren angespitzten Stock unter dem Gürtel hervor. Ihr Blick strich wieder durch den Schankraum, regis t rierte jede Einzelheit.
» Wo ist der Wirt? «, flüsterte sie.
Die Leere des Gasthofs füllte sich augenblicklich mit einer Ahnung von Gefahr. Der Raum besaß keine Fenster, nur eine verschlossene Tür an der Rückseite, die vermutlich in die Küche führte. Eine Balustrade verlief im zweiten Geschoss an allen vier Wänden entlang; man konnte sie über eine schmale Treppe erreichen. Hinterm Geländer standen weitere Tische und Schemel, aber sie alle waren nur zu erahnen. Soweit man von unten sehen konnte, saß auch dort niemand.
Feiqing kratzte sich beklommen am Bauch. » Keine Mensche n seele. «
Der Mönch regte sich noch immer nicht. Er hatte beide Arme auf der Tischplatte verschränkt und seinen Kopf darauf gelegt. Das Gesicht war von den dreien abgewandt, sie
Weitere Kostenlose Bücher