Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Herzog verbrachte seine Tage mit endlosen Besprechungen des Rates, und sie hatte die meiste Zeit über dabeisitzen müssen und interessiert getan, obwohl all die alten Männer sie in Wahrheit zur Weißglut brachten, weil sie fortwährend redeten und redeten, aber niemals irgendetwas taten.
    Der Schattendeuter, eigentlich eines der wichtigsten Mitgli e der der Versammlung, war dort seit vier Tagen nicht mehr aufgetaucht, und mehrere Räte hatten ihre Sorge bekundet. Alessia war aufgebrochen, um nach dem Rechten zu sehen. Zumindest gab ihr dies das Gefühl, etwas Nützliches zu tun.
    Seit sie die Gefahr durch die Baumkreaturen am Berghang ausgekundschaftet und ihre Beobachtungen dem Rat mitgeteilt hatte, machten die Zeitwindpriester aus ihrer Abneigung gegen sie keinen Hehl mehr. Sie hatte die Insel verlassen, das größte Vergehen überhaupt. Was sie dort unten entdeckt hatte, ging im Aufruhr der Empörun g n ahezu unter. Die Priester hatten verkündet, man wisse doch längst, dass am Erdboden unau s sprechliche Gefahren drohten – man habe das schon immer gewusst, nur deshalb gebe es schließlich die strengen Gesetze –, und so dürfe Alessias Entdeckung beileibe niemanden überr a schen. Ihr Vater hatte ihr vor allen Ratsmitgliedern beschämende Vorhaltungen gemacht und Strafe in Aussicht gestellt, falls sie es je wieder wagen sollte, die Insel zu verla s sen. Die Zeitwindpriester hatten die Schelte der Herzogstochter sichtlich genossen; dabei hätte es sie vermutlich weit mehr gefreut, wenn Alessia von einem der Baumwesen in Stücke gerissen worden wäre. Zumindest um die Erbfolge hätte man sich dann keine Sorgen mehr machen müssen.
    Alessia erreichte ihr Pferd und stieg in den Sattel. Es war später Nachmittag, die Sonne versank hinter den Wolkenbergen im Westen. Auf den weißen Gipfeln waren die Aetherpumpen nur als dunkle Striche zu erkennen; die Fühler, die von ihren Spitzen aus wie Marionettenfäden hinauf in den Himmel reichten, waren aus dieser Entfernung nicht zu sehen. Dass ihre Verbindung zur Aetherschicht über dem Himmel gekappt war, hatte sich unter dem Volk der Hohen Lüfte mittlerweile heru m gesprochen. Selbst der niederste Knecht wusste Bescheid, und es regten sich Angst und Zorn in den Gassen der Ortschaft und auf den verstreuten Höfen am Fuß der Wolkengipfel. Überall blieben die Reparaturarbeiten liegen, weil viele es vorzogen, in den Windmühlen um den Beistand des Zeitwinds zu flehen.
    Alessia spürte, dass die beiden Wachtposten am Zugang zum Steg sie beobachteten. Deshalb trieb sie ihr Pferd vorwärts, bis sie hinter der nächsten Wolkenkuppe außer Sichtweite war. Dort zügelte sie das Tier, um in Ruhe nachzudenken.
    Wenn sie jetzt zum Rat zurückkehrte und das Verschwinden des Schattendeuters bekannt machte, würde es nicht lange dauern, ehe die Nachricht zur Bevölkerung durchsickerte. Das würde die Unruhen nur verstärken. Stattdessen erwog sie, die Wächter am Südrand der Wolkeninsel aufzusuchen und sich dort nach Carpi zu erkundigen. An der Stelle, an der sie selbst auf die Felsen herabgestiegen war, hatte der Herzog eine enge Kette von Soldaten seiner Leibgarde aufmarschieren lassen. Die Männer sollten gewährleisten, dass nichts aus der Tiefe herau f gelangen konnte.
    War es möglich, dass der Schattendeuter denselben Weg gewählt hatte? Hatte ihn etwas zum Erdboden gezogen, so wie Alessia selbst? Reine Neugier? Etwas anderes?
    Oddantonio Carpi war als Schattendeuter einer der einflus s reichsten Männer der Wolkeninsel, ein angesehenes Mitglied des Rates. Doch er hatte nie einen Hehl gemacht aus der Abneigung, die er für viele Gesetze der Priesterschaft empfand. Er selbst zeigte sich nur selten bei einer der Zeitwindzeremonien in den Windmühlen, und obgleich die Priester seine Deutungen der Wolkenschatten ernst nahmen, war er ihnen zweifellos ein Dorn im Auge. Sein Einfluss auf die Entscheidungen des Herzogs machte ihn zu einer Gefahr für die Macht der Priester, obgleich niemand das je offen ausgesprochen hatte. Doch Alessia hatte einen feinen Spürsinn für die Abneigungen der Priesterschaft entwickelt; sie war mit dem Hass dieser Männer groß geworden, und sie hatte früh erkannt, dass Oddan tonio Carpi kein gern gesehener Gast in den Windmühlen war.
    Das alles hätte sie und den Schattendeuter zu Verbündeten machen können. Doch ebenso viel, wie sie verband, trennte sie auch voneinander. Zu allererst war Carpi niemals ein Mann gewesen, der die Gesellschaft anderer

Weitere Kostenlose Bücher