Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
Menschen gesucht hatte. Aber da war auch noch etwas anderes gewesen, eine unte r schwellige Unruhe, die Alessia manches Mal in seiner Gegenwart befallen hatte. Der Schattendeuter strahlte stets eine solche Abneigung gegen den Rest der Welt aus, dass es schwer fiel, seine Nähe lange zu ertragen. Und ganz ohne Zweifel empfand er umgekehrt nicht anders. Nicht umsonst verbrachte er den Großteil seiner Tage einsam hier draußen auf seinem Steg, starrte in die Tiefe und studierte die wechselnden Schatten der Wolkeninsel.
Alessia verwarf ihren Plan, die Wächter am Südrand aufzus u chen, und beschloss, sich allein auf die Suche nach dem Schattendeuter zu machen. Bis zur Dunkelheit waren es noch mehrere Stunden. Zwar dämmerte es lange zwischen den Wolken, aber die absolute Schwärze der Nacht währte kürzer als am Erdboden. Ihr blieb noch ausreichend Zeit, Carpis Woh n turm aufzusuchen. Vielleicht hatte er sich zwischen seinen Aufzeichnungen und Büchern verbarrikadiert und stellte Leonardo-weiß-was für Berechnungen an. In der Tat war es ihm gestattet, Bücher zu besitzen, astronomische und geografische Schriften aus alter Zeit, als die Ahnen des Volkes der Hohen Lüfte noch am Boden gelebt hatten.
Oddantonio Carpi lebte in einem hölzernen Turm, nicht weit von seinem Steg am Wolkenrand entfernt. Alessi a m usste hinter den Hügeln einen Bogen schlagen, um dorthin zurückzukehren. Obgleich es ihr gutes Recht war, den Schattendeuter zu Hause aufzusuchen, wollte sie vermeiden, dass die Wachtposten am Steg sie bemerkten.
Interessierst du dich wirklich für ihn? Oder eher für seine Bibliothek? Sie stellte sich diese Frage mehr als einmal, während sie ihr Pferd am Zügel führte, knapp unterhalb der Hügelkuppe, unsichtbar für die Wächter. Aber sie bemühte sich um keine ernsthafte Antwort. Als künftige Herzogin musste ihr allein am Gemeinwohl liegen. Das hatte man ihr von Kind an eingeimpft – und sie hatte bereits früh eine gehörige Abneigung gegen diesen Gedanken entwickelt.
Sie näherte sich dem Turm des Schattendeuters von der Rüc k seite. Das dreistöckige Gebäude befand sich jetzt genau zwischen ihr und dem Zugang zum Steg und schützte sie vor den Blicken der Wächter. Die beiden Männer standen gut dreihundert Schritt vom Turm entfernt. Das war die Distanz, die Carpi jeden Tag zweimal zurücklegte; am Morgen, wenn er sich auf den Weg machte, um den ersten Schattenriss des Tages zu studieren, und abends, wenn die Sonne versank und der Schatten der Wolkeninsel eins wurde mit der Finsternis am Erdboden.
Sie band das Pferd an einem Fensterknauf fest. Das Glas war mit Staub verkrustet und seit einer Ewigkeit nicht mehr geputzt worden. Unmöglich, einen Blick ins Innere zu werfen.
Der Turm war ein hässlicher Klotz aus dunklem Holz, aber er befand sich nah genug am Rand der Wolken, um bei klarem Wetter eine prächtige Aussicht über die Landschaft in der Tiefe zu bieten. Alessia hatte Carpi oft da rum beneidet und vor allem als Kind nie verstanden, warum ihr Vater und sie auf einem übel riechenden Hof zwischen Kuh- und Schweinställen leben mussten, während der Schattendeuter hier draußen wohnen durfte, wo die Luft rein und das Panorama des Erdbodens überwältigend war. Und wo es Bücher gab. Fremde, geheimni s volle, verbotene Bücher.
Vielleicht hatte sie sich deshalb so abfällig über Cesare Spini und seinen Sohn Niccolo geäußert. Du warst neidisch, stichelte ihre innere Stimme. All die Jahre über neidisch darauf, dass die Spinis das Recht des Lesens für sich gefordert und dafür sogar ihre Verbannung in Kauf genommen hatten.
Das war keine angenehme Erkenntnis, und sie ärgerte sich, dass sie ihr ausgerechnet jetzt kam. Sie wollte nicht an Niccolo Spini denken. Sie hatte ihre eigene Aufgabe.
Vorsichtig schob sie sich um die Ecke des Turms zur Vorde r seite. Damit begab sie sich ins Sichtfeld der beiden Wächter – vorausgesetzt, sie blickten gerade in diese Richtung. Alessia dankte dem Großen Leonardo, dass sie am Morgen dunkle Kleidung gewählt hatte; damit hob sie sich kaum von der Holzwand des Turmes ab und war aus der Ferne hoffentlich nicht zu erkennen.
Der Eingang war nicht verschlossen. In Windeseile schlüpfte sie hinein und schob die Tür hinter sich zu.
» Hallo? «, fragte sie zaghaft ins Halbdunkel. » Ist jemand zu Hause? «
Das Erdgeschoss des Turms bestand aus einem einzigen Raum. Eine steile Treppe führte ins Stockwerk darüber. Auch von oben erklang kein Zeichen von
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