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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Leben. Alessia atmete tief durch. Sie kannte den Geruch alter Bücher vo n d en ledergebu n denen Folianten, die sie daheim versteckt hielt, aber hier vermischte er sich mit etwas anderem. Es roch nach Alter und der abgestandenen Luft in Zimmern, die viel zu lange nicht mehr durchgelüftet worden waren.
    Sie rüstete sich für den Anblick eines leblosen Körpers in den Schatten, entweder in diesem Raum oder einer der Etagen darüber. Womöglich gab es gar kein Rätsel um das Verschwi n den des Schattendeuters. Vielleicht war er unerwartet gestorben; ein schwaches Herz, davon hörte man ja.
    Alessia blieb mit dem Rücken zur Tür stehen und wartete, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Es gab zwei Fenster, beide völlig verschmutzt. Sie ließen nur bleiche Helligkeit ein, die sich grau um die Silhouetten von Bücherst a peln und bizarren astronomischen Gerätschaften schmiegte. Oddantonio Carpi war ein allein stehender Mann, und das zeigte sich auch an ganz alltäglichen Dingen: Ungewaschene Teller und Schüsseln türmten sich neben einem Bottich ohne Wasser. Halb zerknüllte Kleidung war über Stuhllehnen verstreut – das also trug der Schattendeuter unter seinem dunklen Mantel! –, und auf einem Tisch am Fenster lagen mehrere angeschnittene Brotkanten.
    » Seniore Carpi? «, rief Alessia noch einmal.
    Sie hielt ihre Neugier angesichts der zahllosen Bücher tapfer im Zaum und bewegte sich zögernd auf die Treppe zu. Die Stufen knarrten unter ihren Füßen, als sie nach oben stieg. Zaghaft schob sie den Kopf über den Rand, blieb vorerst mit den Augen auf Bodenhöhe. Da war ein zerwühltes Bett. Eine offene Kleiderkiste. Noch mehr Bücher, viele aufgeschlagen überei n ander gestapelt.
    Eine weitere Treppe führte auf der anderen Seite des Zimmers hinauf in die höchste Etage des Turms. Alessia rief einmal mehr den Namen des Schattendeuters, ehe sie den Raum durchquerte und sich an den Aufstieg machte. Die Luft schien hier schwerer und irgendwie mürbe, es roch nach schmutziger Wäsche. Auch hier war vermutlich seit Jahren kein Fenster geöffnet worden.
    Das Turmzimmer im oberen Stock war mit den unvermeidl i chen Folianten, Schriftrollen und Karten voll gestopft, ein Labyrinth aus Papier und weiteren Geräten, die den Himmel s studien des Schattendeuters dienen mochten. Auch war da eine große Kugel aus Holz, auf die unregelmäßige Umrisse gemalt waren. Sollte das eine Karte darstellen? Eine Spur aus Wach s tropfen führte kreuz und quer über die eine Seite der Kugel hinweg. Waren das Markierungen, die den Weg der Wolkeni n sel darstellten? Ja, erkannte sie fasziniert, das waren wohl die Länder, die sie überquert hatten. Mit der Fingerspitze folgte sie den verschlungenen Schleifen, bis das Wachs nach hinten hin immer brüchiger und älter wurde. Schon Carpis Vorgänger hatten hier ihre Spuren hinterlassen.
    Eine Leiter führte zu einer Luke im Dach des Turms. Alessia kletterte hinauf, entriegelte die Klappe und schob sie zwei Fingerbreit nach oben. Es gab keine Brüstung rund um die Turmplattform; wäre sie nach draußen geklettert, hätte sie riskiert, von den Wächtern am Steg entdeckt zu werden. Stattdessen blickte sie sich nur durch den Spalt um, fand Carpi auch hier oben nicht und zog sich wieder ins Innere zurück.
    Ein wenig ratlos kam sie wieder am Boden der Turmkammer zum Stehen. Es reizte sie, alles eingehender zu be trachten, sich in Büchern, Dokumenten und Kartenwerk zu vergraben und die Geheimnisse der Wolkeninsel und ihres Weges auf den Winden zu erforschen. Aber sie wusste auch, dass sie dazu kein Recht hatte, nicht einmal als künftige Herzogin. Widerwillig machte sie sich auf den Weg ins Erdgeschoss, um von hier zu ve r schwinden, bevor irgendwer sie entdecken konnte.
    Irgendwer?, durchfuhr es sie, als sie gerade auf die obere Treppenstufe trat. Wohl kaum. Der Einzige, der sie erwischen konnte, war Oddantonio Carpi selbst. Und der war verschollen. Ganz sicher jedenfalls hielt er sich nicht im Turm auf. Offenbar war er seit Tagen nicht hier gewesen, sonst hätten die Wächter ihn bei seiner Rückkehr bemerkt.
    Sie hatte also Zeit. Sie konnte sich umschauen, so lange sie wollte.
    Doch wo anfangen? Ratlos stand sie vor den Bergen aus Büchern, den Stapeln von Pergamentrollen und den wunders a men Anordnungen fremdartiger Geräte. Willkürlich wählte sie einen der Tische aus, blätterte in einem Buch, das aufgeschlagen zuoberst lag, fand aber nichts, das sie auf Anhieb zu

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