Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
Eines dieser Wesen hat mir den Mund zugehalten und mich fortgezerrt. Aber nicht lange. «
Einem Impuls folgend umarmte er sie. Sie wurde stocksteif unter der Berührung, gab aber einen Augenblick später nach und erwiderte die Geste sehr zaghaft.
» Ich bin froh, dass dir nichts passiert is t «, sagte er.
Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, während sie ihm rätselhaft fest in die Augen sah, aber da sagte Meister Li: » Froh sind wir alle. Und nun sollten wir machen, dass wir hier we g kommen! Wahrscheinlich gibt es in den Lavatunneln unter uns noch viel mehr von diesen Kreaturen. Sie sind ängstlich und nicht besonders klug , aber selbst sie werden irgendwann begreifen, dass wir fünfzig oder hundert von ihnen nichts entgegenzusetzen haben. «
» Wie weit ist es bis zu den Türmen? «, fragte Nugua. » Wir könnten noch Tage oder Wochen über die Lava laufen, ehe wir – «
» Das glaube ich nicht. « Der Fangshi lächelte. » Kommt jetzt. «
Wachsam ging er voraus und führte sie auf eine Anhöhe aus einstmals geschmolzenem, dann wieder erstarrtem Gestein.
Vorhin, als sie sich schlafen gelegt hatten, war Niccolo aufg e fallen, dass Li von seinem Wachtposten aus nach Norden geblickt hatte. Nun wurde ihm klar, was er dort gesehen hatte.
» Wie machst du das? «, flüsterte er ehrfürchtig.
Meister Li grinste. » Was meinst du? «
» Das weißt du genau. Wege verkürzen. Lange Strecken zu kurzen … raffen. «
Lis einzige Antwort war ein leises Lachen.
Bei Nacht hätte der Horizont unsichtbar sein müssen. Und doch sahen sie ihn vor sich, bucklig von der Oberfläche des Lavastroms, ein schmaler Streifen zwischen den Felsdornen und ihren Kronen aus Zedern, eine Silhouette vor einem Inferno aus waberndem Feuerschein.
In der Ferne war der Nachthimmel nicht länger schwarz. Eine lodernde Glutkuppel erhob sich am Ende der Lavastraße, eine dichte Wolkendecke, die vom Boden aus von alles verzehrenden Flammen angestrahlt wurde.
» Noch ein paar Stunde n «, sagte Li zufrieden, » d ann sind wir am Ziel. «
DIE TüRME
W ährend sie über die schwarze Felsenödnis wanderten, schien es Niccolo, als käme ihnen das Ende des Lavastroms immer rascher entgegen. Er war nicht sicher, was diesen Eindruck hervorrief. Auf dem schrundigen Untergrund kamen sie nur langsam voran, und doch wuchs die Gluthölle mit jeder Stunde schneller vor ihnen empor. Wenn er nach rechts und links blickte, erwartete er fast, dass die Berge an ihnen vorüberrasten, so als säßen sie alle auf einem von Leonardos Luftschlitten. Aber die Geschwindigkeit, mit der die Felstürme vorbeizogen, entsprach genau dem Tempo ihres Fußmarsches.
Und dennoch – die flüssige Lavazunge rückte rasendschnell näher. Es war das erste Mal, dass die Magie des Fangshi sichtbar wurde, wenn auch nicht als Gewitter aus Blitzen oder anderem Hokuspokus. Nur dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, war nicht zu übersehen.
Schließlich sagte Li: » Wir sollten den Lavastrom jetzt verla s sen. « Mit seiner Lanzenspitze deutete er nach vorn, wo aus den Spalten im Lavagestein feine Rauchfahnen aufstiegen. Alle hatten es plötzlich sehr eilig, von der schwarzen Kruste heru n terzukommen.
Vor langer Zeit, als sich die Lava ihren Weg durch das Gebi r ge gebahnt hatte, war sie weitgehend dem Verlauf natürlicher Täler und Schluchten gefolgt. Trotzdem hat te das flüssige Gestein an seinen Ufern die Hänge der Berge mitgerissen, Geröllhalden unterspült und mächtige Felstürme zum Einsturz gebracht. Das Gelände an den Rändern erwies sich daher als noch schwieriger und unwegsamer als die Lava selbst, und diesmal war Feiqing nicht der Einzige, der sich beklagte.
Es stank nach Schwefel und den unbeschreiblichen Dünsten, die das schmelzende Gestein freisetzte. Schwarze Rauchwirbel tanzten zwischen den Bergen, schraubten sich als dunkle Türme empor und wurden eins mit der aufgewühlten Wolkendecke.
Während der Fangshi keinerlei Anzeichen von Staunen oder gar Sorge zeigte, machten Niccolo, Nugua und Feiqing keinen Hehl aus ihrer Angst. Keiner von ihnen hatte je etwas Ve r gleichbares gesehen. Feiqing hörte gar nicht mehr auf, sein Elend zu beklagen, während Niccolo und Nugua immer stiller wurden und nur in den Blicken des anderen die Bestätigung fanden, dass sie nicht allein waren mit ihrer Furcht.
Was vor Stunden als Reihe warmer Windstöße begonnen hatte, war mittlerweile zu einer Wand aus Hitze geworden. Niccolo hatte erwartet, dass die
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