Das Wort des Hastur - 12
ob Donato vor Ekstase oder Schmerzen geschrien hatte. Mit noch immer weit ausgebreiteten Armen verwandelte er sich in eine Feuergestalt, und sein Degen wurde zu einer lebenden Flamme. Die Felsen erbebten, als ob etwas seit langem unter ihnen begraben lag, das jetzt wieder zum Leben drängte – und Donato brach zusammen.
»Avarra sei uns gnädig!« flüsterte Lian.
Sie hatte ihn nicht getötet, und doch war er nicht mehr am Leben. Sie hatte auf des Schwertes Schneide gestanden; im Innersten fühlte sie sich wie ausgebrannt. Als die ersten Wolkenschleier den Himmel wieder verhüllten, sah Lian, noch immer halb blind, wie die Farbspiele verblichen und die Feuerspuren auf den Felsen erstarben.
Ihre Gefährten kamen nach und nach zu ihr, und alle starrten auf das Häufchen Asche, das einst Donato gewesen war.
»Es war also doch eine Waffe«, erklärte Wandirr heiser.
»Nein«, widersprach Sara und legte dabei ihre Hand auf seinen Arm. »Es war wunderschön.«
Lian rieb sich die Augen, und wie in einer sich nachträglich einstellenden Vision sah sie das überschattete Gesicht einer Frau aus uralten Zeiten. »Für Donato war es eine Waffe, für andere bedeutet es Schönheit. Leben und Tod, Feuer und Eis – alles aufgehoben in Avarras Spiegel.«
»Und was ist es für Sie?« fragte Wandirr und wies dabei auf die Waldläufer.
Lian schaute Deuu und seine Stammesgenossen an, die sich um die Fremden scharten. Und mit einem Mal formte sich die Energie, die Lian durchströmt hatte, zu Worten: »Begreift ihr denn nicht? Dies ist tatsächlich ein Kraftfeld. Deuu, kennt dein Volk noch andere solche Plätze?«
»In den Groß-Tagen«, antwortete der Waldläufer. »Jetzt nicht.«
»Ich glaube, ihr würdet weitere finden, wenn ihr an den Gletscherrändern sucht. Sie speichern die Sonnenwärme, aber die Leitungen sind blockiert. Die Techniker aus den Türmen könnten euch vielleicht dabei helfen, sie wieder in Gang zu setzen. Damit könnte man das Eis schmelzen und mehr Land für euer Volk gewinnen. Es wird kälter auf Darkover, aber die Terraner versichern uns, daß dies schon öfters vorgekommen sei. Ich glaube, die Spiegel wurden vor langer Zeit geschaffen, damit euer Volk in solchen Eiszeiten überleben kann.«
»Aber wie können Sie das wissen?« fragte Sara.
Darauf konnte Lian keine Antwort geben. Sie wußte es einfach, genauso wie sie wußte, daß Wandirr bereits im Geiste seine Monographie schrieb und daß Sara sich fragte, ob man ihr gestatten würde, die Rückkehr der Vegetation zu studieren, wenn die Gletscher zurückgingen. Und zu guter Letzt verstand sie auch den Schmerz, der Donato hinter all seinem Stolz verzehrt hatte.
In Avarras Spiegel zu schauen war keine Flucht vor den Schmerzen dieser Welt, sondern bedeutete, alles – wirklich alles – hinzunehmen. Lian hatte sich zu Recht vor dem Erwachen ihrer Gaben gefürchtet, aber nach diesem Erlebnis hatte sich etwas in ihr verändert. Sie hatte keine Angst mehr.
Lian wischte sich etwas Feuchtes von ihren Wangen – ja, das Eis begann zu schmelzen. Doch dann erinnerte sie sich, daß die Waldläufer die Spiegel ja noch gar nicht benutzten. Nein, das, was Lian spürte, waren Tränen.
PATRICIA DUFFY NOVAK
Die Tränen des Kadarin
Ich habe es schon mehrfach erwähnt, daß es mir besondere Freude bereitet, wenn die Lebensgeschichte einer Figur, die ich einmal erfunden habe, fortgeschrieben wird. Von Patricia Duffy Novak haben wir sowohl in den Anthologien als auch in meinem Magazin bereits mehrere Geschichten abgedruckt; diese hier handelt von Figuren aus Herrin der Stürme – die Leser werden mit Coryn, Renata und Allart nicht nur aus dem Roman, sondern auch aus früheren Geschichten bestens vertraut sein, in denen Patricia bereits ihr Einfühlungsvermögen unter Beweis stellte.
Patricia Duffy Novak hat in Agrarökonomie promoviert und lehrt dieses Fach als Professorin an der Auburn University. Dort arbeitet sie derzeit auch noch an einem Magistertitel in Anglistik.
Ansonsten bleibt mir nicht viel mehr zu sagen, außer vielleicht, daß dies die erste längere Geschichte war, die ich für diesen Band ausgewählt habe.
IN DEN BERGEN GIBT ES EIN ALTES SPRICHWORT: KEINEN SOHN ZU HABEN, IST EIN UNGLÜCK, ZU VIELE SÖHNE HINGEGEN EINE TRAGÖDIE. UND CYRIL, LORD VON ARDAIS, BESASS SECHS KRÄFTIGE SÖHNE.
Ari Hastur, der jüngste Bewahrer des Turms zu Hali, erwachte nur widerwillig. Sein Kopf dröhnte und jeder einzelne Körperteil schmerzte
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