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Das Wuestenhaus

Titel: Das Wuestenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Wolfram
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waren offensichtlich verliebt in die Idee, dass dieser Vorschlag eine wunderbare Wirkung bei meinen
Eltern entfalten würde. Vielleicht waren Sie es auch einfach nur gewohnt, dass Ihre Überzeugungskraft alle Widerstände spielerisch überwand.
    Mein Vater nahm den Prospekt und betrachtete das Bild auf der Frontseite. Es war - das konnte man bei näherem Hinsehen entdecken - ein altes Foto mit einer leichten Unschärfe, dennoch stachen die blauen Türen auf dem Bild hervor, der Himmel war wolkenlos und weit. »Das ist wirklich eine ungewöhnliche Architektur.«
    Im Inneren des Prospekts waren die Holzbänke in der Haupthalle zu sehen, das gedämpfte Licht in den länglichen, hoch oben angebrachten Fenstern, lange, farbige Tücher mit grünen, orangen und türkisen Farbtönen, wie Zöpfe vom Innengebälk herunterhängend, geheimnisvolle Vorhänge, hinter denen sich weitere Tücher aufspannten, dann der Davidstern im Halbdunkel, am Boden schwere Teppiche, eingedunkeltes Holz, verzierte Schnitzereien entlang der Sitzreihen.
    »Den Prospekt gebe ich Ihnen. Er lag noch bei mir im Zimmer. Ich habe ihn in Tunis von einem Kollegen bekommen. Als ich dieses Bild das erste Mal sah, hatte es eine besondere Wirkung auf mich.«
    Sie sahen mich mit einem wissenden Blick an, dann sagten Sie zu meiner Mutter den Satz, der vielleicht als Unterstützung für meinen Vater gedacht war: »Glauben Sie mir, dieses Gebäude sollten Sie wirklich besuchen. Es ist wie eine Schnittstelle zwischen den Glaubensgemeinschaften. Die jüdische und die
islamische Welt kreuzen sich in diesen Räumen wie zwei Flüsse. Hoffentlich sind nicht zu viele Leute da, wenn Sie hinfahren.«
    Ich mischte mich ein und sagte, dass ich keine große Lust auf einen weiteren Ausflug hätte.
    Meine Mutter stimmte mir dankbar zu. Sie sagte, dass uns nur noch wenige Tage auf der Insel blieben. Sie selbst sei ziemlich erschöpft von ihrer Arbeit in Deutschland. »Vielleicht überschätzen Sie unsere Aufnahmefähigkeit.«
    Diesen Satz sagte sie mit einer leisen, zurückhaltenden Ironie, die Sie traf.
    Sie lächelten verständnisvoll, ohne sich etwas anmerken zu lassen. »Es tut mir leid, ich will Sie wirklich nicht zu irgendetwas überreden. Ich denke nur manchmal, wie schade es ist, dass so viele besondere Orte langsam verschwinden - ohne dass wir es sofort bemerken. In der Stadt, in der ich geboren bin, gab es zum Beispiel noch vor ein paar Jahren ein altes wunderbares Schwimmbad mit maurischen Verzierungen. Ich habe dort als Kind schwimmen gelernt. Es wurde, wenn ich mich richtig erinnere, irgendwann am Ende des 19. Jahrhunderts erbaut. Solange es nicht renoviert war, bin ich da auch später noch jedes Jahr mit Freunden hingefahren. Es sind von Berlin aus nur knapp zwei Stunden Fahrtzeit mit dem Auto. Es gab in dem Bad bis in die Neunzigerjahre hinein keine Massageangebote, keine Saunagrotten, keine Plastikchips für die Schränke, auch keine kunsthistorischen Tafeln, nichts. Nur diese große Halle, in
der eine andere Zeit in den Becken zu liegen schien. Jetzt ist es ein hergerichtetes Bad, vollkommen tot. Es war komisch: Als ich in der Synagoge war, dachte ich an das Bad in meiner Heimatstadt. Bestimmt lachen Sie darüber, aber manchmal hat man solche Einfälle. Trotz der Touristenbusse vor der Tür hat der Ort noch eine Ausstrahlung wie wenig anderes, was ich bisher auf der Insel gesehen habe. Natürlich, man darf die eigene Begeisterung nicht überbewerten. Aber ich bin sicher, Sie würden dort eine gute Zeit haben. Es ist keiner der üblichen touristischen Orte. Es ist wirklich kein Museum, sondern ein Platz, der immer noch viele Gläubige anzieht.«
    Leise und konzentriert fielen diese Sätze, wobei Sie die ganze Zeit nur meine Mutter ansahen.
    Vielleicht habe ich nicht mehr jedes Wort genau so in Erinnerung, wie Sie es gesagt haben. Aber im Kern können Sie mir nicht widersprechen. Damit hatten Sie doch die Entscheidung für uns getroffen, oder nicht? Wie sollte man sich diesem Anspruch verweigern? Wo sich doch solche großen Welten dort trafen, ganze Zeitepochen - diese kulturelle Erfahrung durfte sich ein Lehrerehepaar, wenn es schon einmal die Chance hatte, nicht entgehen lassen, oder doch? Ein Vorschlag, ausgesprochen von einem klugen Menschen wie Ihnen, dem konnte man doch guten Gewissens vertrauen? Hatten Sie nicht gesagt, dass die sinnlichen Eindrücke wichtig sind? Das unmittelbare Betrachten und Verstehen? Erkenntnis suchen jenseits des Schulwissens, in der

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