Das Wuestenhaus
sei.
Meine Mutter bedankte sich für die Einladung am Vorabend und erkundigte sich, welche Pläne Sie für den Tag hatten.
»Packen und schwimmen gehen. Morgen fliege ich in aller Frühe nach Berlin.«
Meine Mutter lud Sie ein, mit uns beiden an den Strand zu kommen.
Später schwammen Sie mit mir bis zu dem kleinen Felsenriff, das sich an einer Stelle des im Morgenlicht leuchtenden Meeres wie der Rücken einer versteinerten Amphibie aus dem Wasser erhob.
»Bist du noch böse auf mich?«
»Nein. Ich habe heute Nacht von dir geträumt.«
»Was hast du geträumt?«
»Dass du gemeinsam mit deinen Eltern ein Hotel in Thüringen besitzt.«
»Du hast ein gutes Gedächtnis.« Sie schüttelten lachend den Kopf, tauchten unter, und ich folgte Ihnen nach. Unter Wasser sah man die dunkelgrünen Untergründe des Riffs; schwarze Felsen mit Moosbesatz. Von oben leuchtete die Sonne wie durch ein fernes Bullauge schwach in die Tiefe. In Ihrem Rücken, ohne dass Sie es sehen konnten, warf ich Ihnen ein mit den Händen geformtes Zeichen zu, wie es mein Vater getan hatte. Dann tauchte ich auf.
Als mein Vater den engen Sandweg vom Hotel heruntergelaufen kam, sagte niemand ein Wort. Er setzte sich schweigend auf sein Handtuch. Sie stapften zu einer der kleinen Strandbars und organisierten Kaffee für uns alle.
Als Sie Ihren Kaffee ausgetrunken hatten, ließen Sie die letzten Tropfen in den Sand fallen und schauten in den Kaffeesatz. Mit dem Finger malten Sie Kreise in den Sand. Mein Vater war bedrückt. Er hatte sich seine Sonnenbrille aufgesetzt. Plötzlich sagte er - jedoch nicht zu Ihnen, sondern zu uns gewandt -, er habe sich am Vorabend schrecklich benommen. Es tue ihm leid. Schuld sei das Nichtstun. »Wenn man den ganzen Tag nur rumsitzt, wird man dumm im Kopf.«
Wir beide, meine Mutter und ich, widersprachen, beinahe mit einer absichtslosen Fröhlichkeit: Wir würden es sehr genießen, an diesem Strand zu sein. Keine Verpflichtungen zu haben und nur das Meer zu sehen.
Immer wieder habe ich in den vergangenen Jahren gedacht, dass dies der Moment gewesen war, an dem Sie hätten gehen müssen. Einfach aufstehen und verschwinden. Sie hätten mit bestem Gewissen unhöflich sein können. Stattdessen? Erzählten Sie eine Anekdote.
Es ging um einen Jungen, der unruhig durch einen Wald läuft, bis ihn ein des Weges kommender Mann verwundert anhält und fragt: »Was tust du denn da? Warum läufst du die ganze Zeit durch den Wald?« Der Junge antwortet: »Ich suche Gott«, woraufhin der Mann entgegnet: »Dazu musst du nicht herumlaufen. Ist Gott nicht überall derselbe?« Der Junge stutzt einen Augenblick, dann sagt er fröhlich: »Ja, aber ich bin nicht überall derselbe.«
Meine Eltern lächelten; Sie hatten verstanden, das Eis zu brechen, eine peinliche Situation weniger, gerettet durch Ihre Einfühlsamkeit. Sie warteten ab, wie die Geschichte wirkte, wie sich gedanklich feine Fäden zu unserer Situation spannten. Schließlich sagten Sie, es sei eine alte jüdische Geschichte, die Ihnen jemand in Tunis erzählt habe. Dann fragten Sie meinen Vater: »Erinnern Sie sich noch an den Weg zu der Synagoge? Wir haben gestern auf der Rückfahrt die Abzweigung gesehen.«
Mein Vater hatte von der Synagoge in seinen Reiseführern gelesen. Sie lag auf der Route nach Midoun, wo wir uns die alten, in der Erde vergrabenen Wohnhöhlen angesehen hatten. Die Zeit hatte nicht gereicht, zu der Synagoge zu fahren. Außerdem hatten meine
Mutter und ich kein besonderes Interesse an religiösen Orten.
Sie ließen sich jedoch nicht beirren. Sie erzählten von einem kurzen Aufenthalt in dem abgelegenen Haus, das Sie gemeinsam mit dem ägyptischen Schriftsteller besucht hatten, gleich am Morgen nach der Ankunft auf der Insel. »Es ist eine jahrhundertealte Pilgerstätte, zu der Menschen ziehen, die ihren inneren Frieden suchen.«
Einmal mehr hatten Sie das richtige Gespür dafür, wie man die Neugierde meiner Eltern wecken konnte. Von einem großen, in einer weiten, flachen Sandgegend gelegenen Gebäude sprachen Sie, von einem ungeheuren Blau an den Türen, einer Farbe, wie sie vielleicht noch in Griechenland an einigen alten Holztüren auf den Kykladen zu finden sei, ein leuchtendes, grelles, nur an wenigen Stellen verwittertes Blau, das zu den schönsten Blickfängen der Insel gehöre. »Das ist ein Ort, an dem man alles vergessen kann, was einen gerade beschäftigt. Ich wünschte, ich wäre länger dort geblieben.«
Er erinnerte sich
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