Das Wuestenhaus
lichterfüllten Welt der alten Dörfer,
Küsten und Strände, die so selbstverständlich zu Ihrem Leben gehören? Der Junge, der ganz anders wird, wenn er sich verläuft, ganz gleich, ob der Wald voller Fallen und Löcher ist, die dichte Baumgegend, aus der es keine Wiederkehr mehr gibt? Sicher, Sie konnten nicht wissen, was geschehen würde. Aber Sie haben gegen Ihr eigenes Gebot verstoßen, das Sie mir so ausführlich erklärt haben: die persönliche Entscheidungsfreiheit zu behalten, sich nicht einzumischen in die Probleme der anderen, kein Hund zu sein, der folgt, wenn man ihn schickt oder ruft. Meine Eltern haben Sie nicht um einen Rat gebeten! Keiner von uns hat die Frage an Sie gerichtet: Kennen Sie noch ein besonderes Ziel auf dieser Insel, vielleicht eine alte beeindruckende Synagoge mit weiten Vorplätzen und griechisch anmutenden Türen, das unserer Zerrissenheit Frieden schenkt? Sie haben darauf bestanden, dass wir diesen Ausflug unternehmen, eben in der Art, in der Sie auf Dingen bestehen. Durch Überredung, ruhige Darstellung der Fakten mit jenem Hauch Poesie, der ins Herz fährt. Wie hätten dem meine Eltern widerstehen können?
Der kleine Markt in der Nähe des Hotels, der fast aus nur ein paar ärmlichen Buden bestand, besaß auch einen Stand mit Schmucksachen, Handarbeiten, Goldringen und Silberketten. Am Morgen nach Ihrer Abreise hat mein Vater dort eine Kette für meine Mutter gekauft. Eine schmale silberne Kette mit einem grünen Stein. Er brachte sie ihr zum Frühstück mit. Sie
legte sie sofort an, umarmte ihn und hielt ihre Hand auf den Stein - ich kann mir bis heute nicht richtig erklären, was der eigentliche Sinn dieses Geschenks war. Vielleicht eine Entschuldigung für sein Benehmen während des Festes. Vielleicht eine zarte Überredung, seinem Wunsch zuzustimmen, zu der alten Synagoge zu fahren. Vielleicht das Zeichen für einen Neubeginn zwischen ihnen. Seit dem Gespräch am Strand war mein Vater sehr liebevoll zu meiner Mutter. Er begann seinen Tonfall zu verändern.
Am Abend zuvor hatten Sie sich nach unserem gemeinsamen Abendessen verabschiedet. Sie trugen ein weißes Hemd und Jeans. Sie hatten sich nur einen leichten Salat bestellt und tranken dazu ein Glas Rotwein.
Sie kreisten mit den Weißbrotstückchen auf dem Teller herum, um auch noch den letzten Rest Öl in das Brot einziehen zu lassen. Ich hatte den Eindruck, Sie waren in Gedanken schon längst unterwegs. Einmal entschuldigten Sie sich, weil Ihr Telefon klingelte, und Sie verschwanden draußen für längere Zeit in der Lobby, um zu telefonieren. Als Sie sich wieder zu uns an den Tisch setzten, wirkten Sie fahrig und unruhig, was Sie mit Ihrem Lächeln zu überspielen versuchten.
»Ich muss mich erst wieder an den europäischen Rhythmus gewöhnen.«
Dann wurde geplaudert, über Allerweltsthemen, die Einrichtung der Zimmer, den Service im Hotel, die Taxipreise auf der Insel und all das. Schließlich luden
Sie meine Eltern nach Berlin ein. Natürlich in einer Form, die vollkommen unverbindlich war. Reine Höflichkeit. Zwei Visitenkarten und eine handschriftliche Privatnummer. Meinem Vater schenkten Sie das Buch, das einen Kommentar zur biblischen Sündenbock-Geschichte enthielt. Sie legten es vor ihm auf den Tisch. Die letzten Sätze, die Sie zu ihm sagten, waren: »Ein paar Stellen habe ich mit Bleistift angestrichen. Ich hoffe, es stört nicht beim Lesen.«
Mein Vater war überrascht und bedankte sich, indem er Ihnen fest die Hand drückte.
Sie sahen mich an und sagten: »Maja, für dich habe ich auch noch ein Geschenk. Ich habe es oben in meinem Zimmer.« Sie gaben meinen Eltern die Hand. »Ist es in Ordnung, wenn Maja noch kurz mit hochkommt?«
Ihr Koffer stand schon vor der Tür. Nur einige Zeitungen lagen noch auf dem aufgeschlagenen Bett und ein helles großes Kuvert, auf dem eine Adresse durchgestrichen war. Sie drückten mir das Kuvert in die Hand. Ich öffnete es und zog eine Schallplatte mit arabischen Schriftzeichen hervor. »Das habe ich dem Deutschen entlockt, der das Fest gegeben hat. Es ist eine Aufnahme aus den Achtzigerjahren.«
Auf dem Cover war eine Frau mit ernstem Gesicht und großen, perlenbesetzten Ohrringen zu sehen, die auf eine Reihe entfernt stehender Hochhäuser blickte.
»Fairouz. Sie wird hier verehrt wie eine Heilige.«
»Danke! Aber ich habe gar nichts für dich …«
»Irgendwann werden wir uns in Berlin sehen.«
Sie nahmen meine Hand, drehten sie um und strichen langsam über
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