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Das Wuestenhaus

Titel: Das Wuestenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Wolfram
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Passfotos von meinem Bruder und seiner Frau, Majas Satz: »Sie sehen alle gleich aus.«
    Ich war der festen Überzeugung, dass wir in Gefahr waren, wobei ich gar nicht mal nur an die Männer in diesem Zimmer im unteren Flur dachte, sondern daran, dass die Gefahr selbst von dem schweigsamen Kellner hinter der Bar ausgehen konnte, der mir die Rechnung für das Bier vorlegte.
    Als ich in unser Zimmer kam, schlief Maja noch immer. Zur Hälfte hatte sie sich die Decke über ihre Schultern gezogen. Ich verriegelte zweifach die Tür.
    Noch immer lief der Fernseher. Sie zeigten gerade ein Konzert der Bee Gees, einer Gruppe, mit der ich aufgewachsen bin. Mir hat der Gesang von Barry Gibb immer sehr gut gefallen. Nun saß ich auf dem Bett und sah ihm zu, wie er mit seiner Gitarre eine riesige Konzerthalle begeisterte, ohne dass ich einen Ton hören konnte. Einmal drehte ich kurz die Lautstärke auf, um zu hören, wie er mit seinen Brüdern »Too Much Heaven« sang.

    Sie kamen nach einer Pause gemeinsam aus dem dunklen Hintergrund auf die Bühne zurück, wischten sich mit Handtüchern den Schweiß von der Stirn, lachten und gingen dann zu ihren Mikrofonen.
    Ich fühlte mich in einer unwirklichen Welt. Mitten in Paris war mir das verunglückte Verhältnis zu meinem toten Bruder wieder zu Bewusstsein gekommen, neben mir schlief mit ruhigen, warmen Atemzügen seine Tochter, für die ich, zumindest was die rechtlichen Dinge betraf, eine Zeit lang die Verantwortung übernommen hatte, die leisen Töne eines meiner Lieblingslieder rauschten auf mich ein, und zugleich bestand da die Möglichkeit, dass wir ins Visier uns vollkommen unbekannter Kräfte geraten waren, die vielleicht eine neue Katastrophe anrichten würden. Warum war Maja nur so unbesorgt? So unverantwortlich ruhig?
    Ich stand auf, öffnete die Tür, sah und lauschte auf den Flur hinaus, dann verriegelte ich das Schloss und prüfte mit den Händen, ob die Tür wirklich verschlossen war. Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Tür. Die Gegenstände im Raum schienen leicht zu schweben und in ihren Umrissen zu verschwimmen. Manchmal war das Geräusch des kleinen Fahrstuhls auf dem Flur zu hören. Immer wieder dachte ich an die Worte der Dolmetscherin, die zu Maja gesagt hatte: Sie verständigen sich mit Codes. Ein Gebet kann schon ausreichen. Oder eine beiläufige Redewendung. Konnte nicht auch das Fahren mit dem Fahrstuhl Teil
eines Zeichensystems sein? Die Stopps in der zweiten oder dritten Etage, das bewusst gelenkte Öffnen und Schließen der Kabinentür - eine klug ausgedachte Signalreihe? Klopfgeräusche an den Türen, Schrittfolgen. Hundert Möglichkeiten, unser Zimmer zu umstellen, fielen mir ein. Natürlich, ich hatte getrunken, ich war überreizt, aber existierte nicht die reale Möglichkeit, dass ich recht hatte?
     
    Maja weckte mich zeitig am nächsten Morgen. »Wo liegst du denn? Wolltest du nicht im Bett schlafen?«, sagte sie fröhlich.
    Sie hatte sich bereits unten aus dem Restaurant einen Kaffee besorgt. Sie trug eine schwarze Hose und ein enges gelbes T-Shirt, das ihren sportlichen Körper betonte. Mir war es unangenehm, dass Maja mich so sah; mir kam die vergangene Nacht wie eine unwirkliche Erinnerung vor.
    Die Fenster standen weit geöffnet; ich hatte Kopfschmerzen. Ich nahm einen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse und sagte: »Ich war ziemlich betrunken gestern.«
    »Mag sein. Du hast mir so viele komische Dinge erzählt. Du musst noch packen.«
    Als wir mit unseren Koffern in der Hotellobby erschienen, kam mir der Junge entgegen, den ich in der Nacht auf dem Gang gesehen hatte. Er hielt ein Brötchen in der Hand, rannte zwischen den Gästen umher und warf sich schließlich auf die Ledercouch neben seinen Vater, der in einem Aktenordner blätterte. Der Bärtige schwitzte. Ständig rieb er sich mit
einem weißen Stofftuch über seinen Nacken und massierte mit seiner rechten Hand die Schulter des Jungen. Dann schloss er den Aktenordner, drückte das Kind an sich und streichelte ihm über den Kopf. Als der Junge mich entdeckte, drückte er den Kopf schnell wieder in das Hemd seines Vaters. Von den anderen Männern war keiner zu sehen. Der Bärtige würdigte uns keines Blickes. Plötzlich kam mir die Angst der Nacht lächerlich vor, obwohl immer noch etwas in mir beunruhigt war.
    Auf der Autobahn in Richtung der deutschen Grenze ertappte ich mich noch einmal dabei, im Rückspiegel nach den Gesichtern aus dem Hotel Ausschau zu

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