Das Wuestenhaus
überzeugt hat: Darüber musst du schreiben? Wer aus deiner Familie wird nun Rechenschaft von demjenigen fordern, der dir den Tipp gegeben hat?
Maria stieß ihn unter dem Tisch leicht mit der Fußspitze an. Der Chefredakteur hatte mit seiner voluminösen Bassstimme eine Frage an ihn gerichtet.
»Ja, ich meinte Sie.«
»Könnten Sie Ihre Frage bitte noch mal wiederholen?«
»Ich kenne Sie gar nicht so unkonzentriert. Würden Sie für die nächste Ausgabe eine Nachricht vorbereiten, in der die Arbeit des Kollegen für unsere Zeitung gewürdigt wird?«
Er nickte.
Nach der Konferenz ging er zurück in sein Büro. Auf Marias Tisch lagen die ausgedruckte Eilmeldung und einige Fotos des getöteten Kollegen. Auf den Schwarz-Weiß-Fotos waren die großen Ohren des
Mannes deutlich zu erkennen. Er nahm die Fotos und verstaute sie in seinem Schreibtisch in der Mappe, auf der das Wort »Insel« stand.
Den Abend verbrachte er mit Maria in einer kleinen Bar am Nollendorfplatz. Draußen vor dem Eingang standen zwischen den kreisförmig angeordneten Tischen große orangefarbene Schirme. Einige Gäste hatten sich Decken über die Knie gelegt. Es war merklich kühler geworden. Er folgte Maria in die Bar. Sie bestellte zwei Whiskey und sagte, während sie sich die Haare aus der Stirn strich: »Es ist komisch. Jetzt kennen wir uns seit zwei Jahren, und ich habe dich noch nie so durcheinander erlebt wie in den letzten Tagen. Du haust plötzlich nach Frankreich ab wegen einer völlig unwichtigen Ausstellung, lässt dich vom Chef bloßstellen, übergibst dringende Geschichten an Kollegen - lass mich raten: eine Frau?«
Er lächelte und rührte langsam die Eiswürfel in seinem Glas. »Ja, eine Frau.«
Er trank seinen Whiskey, wobei er plötzlich Lust verspürte, eine Zigarette zu rauchen.
»Mehr willst du nicht erzählen?«
»Es gibt nicht viel zu erzählen. Sie glaubt, ich hätte etwas mit dem Tod ihrer Eltern zu tun.«
Maria schien unsicher zu sein, ob er sich einen dummen Scherz erlaubte. »Und, hast du?«
»Ich mochte ihre Eltern. Und ich mag sie.«
»Dann ist sie verrückt?«
»Ich fürchte, sie ist überhaupt nicht verrückt. Kennst du das Gefühl, wenn jemand recht hat und zugleich vollkommen im Unrecht ist?«
»Das ist mir zu kompliziert.«
»Im Grunde ist es ganz einfach. Manchmal wirst du in ein fremdes Spiel hineingezogen, und irgendjemand teilt dir die beschissene Aufgabe zu, darin eine Rolle zu übernehmen. Und du machst es auch noch gut. Du bist der Beste, den man hätte finden können.«
Maria schüttelte den Kopf und lachte. »Normalerweise sagen die Männer, die ich kenne, gar nichts, wenn sie die Geheimnisvollen spielen wollen, aber du schaffst es, das Rätselraten richtig anzuheizen.«
»Du wolltest doch wissen, warum ich so durcheinander bin. Das ist die präziseste Antwort, die ich dir geben kann. Hast du Lust zu tanzen?«
Im Hintergrund der Bar befand sich eine kleine Tanzfläche, von der schon länger alte Soulmusik zu hören war. Sie spielten nun »Purple Rain« von Prince. Die Stimme von Prince kreischte, als würde er das Lied zum ersten Mal singen.
»Dazu tanzen eigentlich andere Leute als wir.«
»Tu mir den Gefallen.«
Marias lange Haare berührten seine Wange. Er hatte noch nie mit ihr getanzt. Offensichtlich gab sie sich Mühe, ihn nicht spüren zu lassen, wie überraschend diese Aufforderung für sie gekommen war. Er legte seine Hände auf ihren schmalen, schlanken Rücken. Er mochte den Geruch ihrer Haare. Die Wirkung
des Whiskeys machte sich bemerkbar. Er spürte, wie ihn leichter Schwindel befiel. Maria führte ihn. Ein rasches Drehen, in dem die Lichter der dunklen Bar wie kleine rote und orangefarbene Blitze an ihm vorbeischossen, ein Rausch fuhr durch seinen Körper. Er drückte sein Gesicht ganz leicht an ihren Kopf.
»Du bist für mich wirklich manchmal ein Rätsel, weißt du das?«
»Du hast etwas gut bei mir, Maria.«
»Mir wäre lieber, du würdest dir ein paar Tage freinehmen und dich ausruhen. Du könntest ans Meer fahren, irgendwo im Süden. Du kennst doch genügend schöne Orte in diesen Ländern.«
»Ja, ich kenne dort genügend Orte.«
Er bezahlte den Whiskey, verabschiedete sich von Maria und lief hinunter zum Winterfeldtplatz, hinein in eine Straße, in der er seine erste Wohnung in der Stadt gemietet hatte. An einigen Hauseingängen waren Graffiti zu sehen, rote geschwungene Bögen, die in der Dunkelheit wie klaffende Risse im Gemäuer wirkten. Er nahm das
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