Das Wüten der ganzen Welt
der Stunde habe ich gerade Nummer drei.«
Und dann sang sie das liebliche Lied, dessen Titel Waldeinsamkeit lautet. War das Zufall? Oder wollte sie mit dem reizvollen Volkslied die Feldeinsamkeit auswischen, aufheben? Nach dem Lied sahen wir uns an, sie zuckte mit den Schultern, und ich dachte: Aber du hast doch schon einen Freund. Du brauchst doch nicht eifersüchtig zu sein.
»Was hat diese Joanna für eine schöne Stimme, nicht wahr?« flüsterte sie.
»Unglaublich«, sagte ich.
»Dagegen komme ich nicht an«, sagte sie.
»Und ich kann sie nicht auf dem Niveau begleiten, auf dem sie singt«, sagte ich.
»Du hast wunderbar gespielt.«
»Nicht so, wie sie singt, nein, das ist absolut von einem Rang, an den wir nicht heranreichen, gut daß wir auf dem gleichen Niveau sind, wir sollten doch öfter mal zusammen musizieren.«
»Würdest du mich dann nächste Woche begleiten? Ich muß bei einer Kabarettgruppe vorsingen. Die haben zwar einen Pianisten, aber bei dem werde ich wahnsinnig nervös, mit dir würde es tausendmal besser gehen.«
»Mach ich«, sagte ich.
»Phantastisch«, sagte sie.
»Dann werde ich jetzt nach Hause gehen«, sagte ich.
Eine halbe Stunde später radelte ich, allerdings nicht, bevor ich auch noch eine Musikverabredung mit Joanna getroffen hatte, gegen den schneidenden, scharfen Nordostwind zur Hooglandse Kerkgracht. Es war so bitter kalt, daß ich es fast bedauerte, das Angebot von Yvonne Kogeldans, mich nach Hause zu bringen (»Dein Rad paßt leicht in den Kofferraum, ragt ein bißchen heraus, macht aber nichts«), abgelehnt zu haben. Es war, als wären mir trotz meiner Pelzmütze nicht nur die Ohren, sondern auch die Gedanken gefroren.
Joanna
Ein gutes Jahr später kam ich eines Abends im Herbst nach einer Zusammenkunft unserer Prokofjew-Vereinigung ziemlich spät nach Hause. Auf dem dunklen Dachboden roch ich den beißenden Rauch einer Zigarette. Die Tür meines Zimmers stand halb offen. Vorsichtig stieß ich dagegen und machte einen Schritt nach vorn. Auf der Schwelle zu meinem Zimmer blieb ich erst einmal stehen. An einem der Bogenfenster saß eine rauchende Gestalt. Das diffuse Licht einer Straßenlaterne gab ihrem Umriß Kontur. Erst als sie »hallo« sagte, erkannte ich sie.
»Wie bist du denn hier reingekommen?« fragte ich erstaunt.
»Einer deiner Mitbewohner hat mich reingelassen.«
»Weshalb bist du gekommen?« »Ich wollte einmal mit dir sprechen.« »Das ist der Titel eines christlichen Radioprogramms«, sagte ich, »›Ich wollte einmal mit Ihnen sprechen‹. Aha, ich verstehe, es geht also um Gott.« »Nein, um Liebe. Ich liebe dich.« »Womit habe ich das verdient?« fragte ich. Ich betrat zögernd mein Zimmer und knipste das Licht an. Sie drehte sich zu mir um, lächelte süß und drückte ihre Zigarette aus. Sie sah auffallend zivilisiert aus. Sie trug eine blaue Bluse, einen ziemlich langen, schmalen schwarzen Rock, dunkle Nylons, Schuhe mit manierlichen Hacken. Sie hatte ihre langen Fingernägel kurz geschnitten. Das erschreckte mich; sofort begriff ich, daß sie das für mich getan hatte. Um sie zu necken, sagte ich: »Was für ein Jammer! Du hast dir die prächtigen Nägel geschnitten!«
Sie geriet ein wenig durcheinander, stotterte: »Das hab ich dir zuliebe... du fandest... du sagtest...« Sie riß sich zusammen, sagte: »Meine Maniküre sagte, es sei besser, wenn ich sie abschnitte und sie dann wieder nachwachsen ließe. In einem Monat sehen sie wieder wunderschön aus.«
»Dann komm also in einem Monat wieder«, sagte ich.
Sie lächelte wieder, sie sagte: »Ach, komm, nun wollen wir uns mal aussprechen, ich bin verrückt nach dir, wirklich wahr, und du... du findest mich ein bißchen unheimlich, du hast etwas Angst vor mir, aber das ist... du weißt das noch nicht, oder du bist noch nicht soweit, um das zu wissen, aber Angst ist auch Liebe, Angst ist der beste Nährboden für Liebe, das wirst du schon noch entdecken, ich würde es nur nicht gern mit ansehen, daß du, bevor du das entdeckst, versehentlich irgendeine storchbeinige Person nett findest.«
Mit der rechten Hand wühlte ich in meinem Haar. Damals ging das noch.
Gerührt sah sie mich an, sie sagte: »Warum sehe ich dich nie mehr in der Hugo de Grootstraat?«
»Gleich nach meinem Examen habe ich der Pharmazie Lebewohl gesagt«, sagte ich angeberisch.
»Wiegen, Mischen, Rühren, Pülverchen, Salben, die LD 50, das Arzneimittelbuch, wie furchtbar!«
»Was tust du jetzt?«
»Ich bin in
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