Das Wüten der ganzen Welt
außerdem war doch klar, daß Edersheim, gerade weil die beiden Töchter seines Freundes im Wohnzimmer saßen, an diesen hatte denken müssen. Wären sie nicht dagewesen, hätte Edersheim mich wohl kaum für ihren Vater gehalten. Ich durfte aus dieser Verwechslung keine zu weit reichenden Schlüsse ziehen, dazu war es noch viel zu früh, und außerdem hatte Edersheims Frau alles abgestritten und ihren Mann als kurzsichtigen Maulwurf bezeichnet.
Nach dem Kaffee konnte ich mich hinter dem Klavier verschanzen, und ich spielte ein paar Sonaten von Domenico Scarlatti und trat dann meinen Platz an den inzwischen eingetroffenen Kollegen von Professor Edersheim ab. Es erklang Opus 8 von Brahms, und ich hörte das Stück kaum, konnte nur an das denken, was mir an der Gartenpforte geschehen war. Nicht einmal das verblüffende Äußere von Fräulein Kogeldans vermochte mich abzulenken. Sie trug das kürzeste Röckchen, das ich je gesehen hatte, es schien eher ein breiter Gürtel zu sein als ein Röckchen, und darunter glänzten durchbrochene hellgrüne Spitzenstrümpfe. Auch ihr Pullover war hellgrün, und auch der war durchbrochen, und sie trug Jadeohrringe, die ihr bis auf die Schultern reichten, und ihre Augenlider und ihre immer noch überlangen Fingernägel hatte sie ebenfalls hellgrün angemalt. Sie lachte mir die ganze Zeit süß zu. Sie schien überhaupt nicht böse darüber zu sein, daß ich nachts von ihr geflohen war. Vielleicht hätte mich das unter normalen Umständen immerhin für sie eingenommen, aber nach der Szene am Gartentor war ich weder für Großzügigkeit noch für Nachsicht empfänglich. Es kam einzig und allein darauf an, den Aufruhr in meinem Innern zu beruhigen.
Erst als Hester das Zimmer betrat, gelang das einigermaßen. Erst da war ich offen für die Überlegung: Wenn er es war, welches Motiv könnte er gehabt haben? Wie unwahrscheinlich, daß er ein Motiv dafür gehabt haben könnte. Wirklich, er kann es nicht gewesen sein; daß Edersheim dich für ihn gehalten hat, besagt gar nichts.
Edersheim fragte: »Will nicht jemand etwas singen?«
Die jüngere Tochter fragte leicht spöttisch: »Ist denn jemand hier, der begleiten kann?«
»Solange es keine Lieder von Hanns Eisler oder Hans Pfitzner sind, kann ich dich durchaus begleiten«, sagte ich.
»Ich habe hier Lieder von Brahms«, sagte Edersheim, »wie wäre es damit?«
Ich ging mit den Noten zum Flügel. Als ich davorsaß und sie auf den Notenständer gestellt hatte, wartete ich ruhig auf das, was kommen würde, und jemand sagte: Feldeinsamkeit, und ich suchte das Lied heraus und dachte währenddessen: Minderhout und Alice wissen es natürlich auch und haben ihn die ganze Zeit über gedeckt. Warum? Warum? Und zugleich dachte ich: Feldeinsamkeit, welch eine Anmaßung, welc h ein Hochmut, selbst die Allergrößten schrecken davor zurück, und ich sagte: »Na, sag mal, du traust dich aber, das ist so etwa das schwerste Lied, das Brahms komponiert hat.«
Vorsichtig schlug ich die ersten Akkorde an. Dann sang eine Stimme: »Ich ruhe«, und ich dachte - auch weil ich schlecht aufpaßte, immer nur an Edersheim dachte, der mich für Oberstein gehalten hatte -, daß es die Stimme der jüngeren Tochter sei. Erst als das Lied zu Ende war, entdeckte ich, daß die ältere Tochter es gesungen hatte, aber da war es schon zu spät, da lag ich in Gedanken schon auf den Knien vor dieser seltsam schönen, warmen, vollen, dunklen Mezzosopranstimme. Außerdem munterte mich die Personenverwechslung auf. Wenn ich so einfach die ältere und jüngere Tochter miteinander verwechseln konnte, schien es weniger merkwürdig und auch weniger vielsagend, daß Edersheim einen Augenblick geglaubt hatte, Oberstein vor sich zu sehen.
So etwas konnte demnach passieren, auch ich hatte gerade zwei Schwestern miteinander verwechselt. Daraus konnte man doch nichts ableiten, daraus konnten doch keine weitreichenden Schlüsse gezogen werden?
Nach Feldeinsamkeit sang die ältere Tochter noch andere Lieder von Brahms, und wir endeten mit einem Lied von Fauré. Trotz meiner Erschütterung oder vielleicht auch gerade dank meiner Erschütterung begleitete ich besser denn je, aber das kam auch daher, weil ich eine so unglaublich schöne Stimme stützen durfte. Am Schluß des Abends - da hatten wir schon Wein getrunken - wollte Hester gern noch etwas singen, und es war selbstverständlich, daß ich sie begleitete. Sie stellte die Schlichten Weisen von Reger auf das Klavier, sagte: »In
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