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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Den Haag auf dem Konservatorium«, sagte ich stolz.
    »Aber bist du denn nicht eingezogen worden?«
    »Habe ich auch schon hinter mir. Vor neun Monaten wurde ich einberufen. Drei Wochen lang habe ich es ausgehalten, oder haben die es ausgehalten, wie du willst, dann haben sie mich gehen lassen. Ich habe drei Wochen lang in einer Kaserne schwer krank im Bett gelegen. Nun ja, schwer krank, scheinbar krank. Ach, du kapierst schon... ich hatte das eine und andere mitgenommen, was man einnehmen konnte, ich wollte mir selber zeigen, daß ich nicht umsonst Pharmazie studiert hatte.«
    »Nach drei Wochen schon wieder raus, dann bist du also immer noch kein Mann«, sagte sie schelmisch, »aber vielleicht könntest du mir dennoch ein Gläschen Wein anbieten.«
    »Ich habe nur Leitungswasser im Hause«, sagte ich.
    »Vielleicht könntest du bei einem deiner Mitbewohner eine Flasche Wein leihen?«
    »Das wäre vielleicht möglich«, sagte ich.
    Ruhig verließ ich meine Dachkammer, stieg die Treppe zum ersten Stock hinunter, stieg danach die Treppe zum Parterre hinunter, öffnete behutsam die Haustür und schloß sie fast geräuschlos hinter mir. Unter einer bleichen und schmalen Mondsichel, die schief und possierlich über der Hooglandse Kerk hing, schlich ich feige über das Kopfsteinpflaster zum Nieuwsteeg. Zuerst irrte ich eine Zeitlang durch die stillen Straßen von Leidens Innenstadt. Der Himmel war wolkenlos und klar, was in den Niederlanden selten ist. Ich lief nach Nordosten zur Stadt hinaus, auf eine Landstraße, Richtung Oud Ade. Je weiter ich die Stadt mit all ihren Lichtern hinter mir ließ, desto besser konnte ich die Sterne am Himmel sehen. Schließlich erreichte ich einen stockfinsteren Polderweg; links und rechts standen krumme, niedrige Kopfweiden, die wie uralte Zwerge an den Wassergräben Wache hielten. Auf der glatten Oberfläche spiegelte sich der Sternenhimmel. Ehrfurchtsvoll schaute ich zu den Sternbildern auf, deren Namen Graswinckel seinem philosophischen Verhör beiläufig hinzugefügt hatte. »Dort oben am prächtigen Sternenzelt, da ist ein herrlicher Ort«, murmelte ich. Unaufhaltsam stieg die Melodie dieses Kirchenliedes in mir hoch, und ich dachte: Da will ich niemals hin, da wohnt Gott, der dich zu töten sucht.
    Während ich zum tiefschwarzen Sternenhimmel aufschaute, zu Schwan und Leier, zu Kepheus und Kassiopeia, wußte ich, daß ich mich selbst betrog, wußte ich, daß ich schon lange nicht mehr an Gott glaubte, wußte ich, daß ich vielleicht nie an Gott geglaubt hatte. Und ich wußte auch auf jenem Feldweg nach Oud Ade unter einem schwarz leuchtenden Himmel, daß diese Erkenntnis, daß dieses Selbstbekenntnis zu nichts führte. Auch wenn ich längst nicht mehr an Gott glaubte, auch wenn ich vielleicht nie an Gott geglaubt hatte, fürchtete ich mich weiterhin. Diese eine Bibelstelle verlor nichts von ihrer Kraft, von ihrer Drohung.
    Der Himmel glänzte tiefschwarz und friedlich, er war übersät mit funkelnden Sternen. Sogar den Andromedanebel sah ich als ganz vages Fleckchen zwischen der Kassiopeia und dem gleichnamigen Sternbild.
    »Licht, das seit über zwei Millionen Jahren erloschen ist«, murmelte ich, »also, warum soll ich mir über Gott Sorgen machen? Oder über Yvonne Kogeld ans? Oder über William?« Auch ihn hatte ich an diesem Abend gesehen, nur etwas früher, bei einer Zusammenkunft der Prokofjew-Vereinigung. Wir waren noch immer gut befreundet, dennoch würde ich nie vergessen können, daß er mir eines Abends Knall auf Fall vorschlug: »Sollen wir bei dir unter die Decke kriechen? Dann kitzel ich dich, und du kitzelst mich.«
    Zwischen zwei Kopfweiden, umgeben von den gewaltigen Blättern des Huflattichs, setzte ich mich an den Rand des Grabens. Während ich zum Herbstviereck hinaufschaute, sagte ich: »Gott, ich bin hier auf dem Weg, und auch wenn es keine Herberge ist, das braucht kein Hindernis für dich zu sein, mich zu beseitigen. Wenn du mich zu töten suchst, dann bin ich bereit. Einst träumte ich davon, ein großer Komponist zu werden, aber als Mozart und Schubert so alt waren wie ich jetzt, hatten sie schon Dutzende von Meisterwerken geschrieben. Und Bach war fünfzehn, als er aus der Melodie von O Gott, du frommer Gott dieses Wunderwerk hervorzauberte. Und er war
    c ebenso alt wie i h jetzt, als er den Chor über die Turteltauben aus der Ratswahlkantate komponierte. Nie werde ich an einen dieser drei heranreichen, niemals auch nur in ihrem Schatten stehen können.

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