Das Wüten der ganzen Welt
Warum also sollte ich noch weiterleben?« Und dann wartete ich in aller Ruhe ab, ein kühler Wind strich durch die Blätter der Kopfweiden, das Wasser des Grabens kräuselte sich, und fast senkrecht über mir glänzten geradezu schmerzlich Wega und Deneb an dem leuchtend klaren Himmel. Vielleicht waren meine Worte mehr spaßhaft geme int oder rührten aus einem unangemessenen Übermut her, und doch kam ein Gefühl von großer Ruhe und Demut über mich, nachdem ich geendet hatte. A slumber did my spirit seal, I had no human fears. Schlaf umhüllte meine Seele, alle menschlichen Ängste waren mir fern.
Um zwei Uhr nachts kehrte ich in mein Zimmer zurück. Yvonne Kogeldans war Gott sei Dank verschwunden, aber der Geruch ihrer Zigarette hing noch darin und ließ sich nicht einmal vertreiben, als ich die Bogenfenster weit öffnete. Raucher begreifen, glaube ich, nicht, was sie ihren Mitmenschen antun.
Am Tag darauf übten Joanna und ich in einem kleinen Saal des Konservatoriums für einen Wettbewerb, an dem sie teilnehmen würde. Sie wollte Lieder von Fauré singen. Sie stellte Premier recueil der Mélodies von Fauré auf den Notenständer des Flügels, schlug Seite achtundsiebzig auf, sagte: »Zuerst dies.«
»Das kenne ich«, sagte ich, »dazu habe ich einmal Hester begleitet.«
»Das paßt ja gut«, sagte sie.
Pianissimo schlug ich die ersten Akkorde an. Sie setzte nach dem dritten Akkord ein. Sie sang:
S'asseoir tous deux au bord du flot qui passe, Le voir passer, Tous deux, s'il glisse un nuage en l'espace, Le voir glisser, A l'horizon, s'il fume un toit de chaume, Le voir fumer, Aux alentours si quelque fleur embaume, S'en embaumer.
Entendre au pied du saule où l'eau murmure
L'eau murmurer, Ne pas sentir, tant que ce reve dure, Le temps durer, Mais n'apportant de passion profonde
Qu'à s'adorer, Sans nul souci des querelles du monde, Les ignorer;
Et seuls, tous deux devant tout ce qui lasse, Sans se lasser, Sentir l'amour, devant tout ce qui passe, Ne point passer!
Zu zweit am Ufer des Baches sitzen, der fließt, ihn fließen sehen, zu zweit, wenn die Wolke am Himmel gleitet, sie gleiten sehen, am Horizont, wenn dort ein Strohdach raucht, es rauchen sehen, und wenn ganz nah eine Blume duftet, im Duft versinken.
Lauschend am Fuße der Weide, am murmelnden
Bach, ihn murmeln hören, nicht spüren, solange der Traum dauert, die Dauer der Zeit, doch hingegeben der einzig tiefen Leidenschaft, sich anzubeten, ohne Rücksicht auf das Wüten der Welt, es nicht beachten;
und abgeschieden, nur zu zweit, bei allem
Überdruß
nicht verdrossen werden und empfinden, wie die Liebe, inmitten von
Vergänglichkeit, nicht vergeht!
Wie sie das sang, mühelos, fast ohne Vibrato und mit dem denkbar schönsten Legato, ach, dafür gibt es keine Worte. Und dann zu wissen, daß Au bord de l'eau selbst im Œuvre Faurés von einer unbegreiflichen und unerreichten Schönheit ist, von einer unglaublichen Einfachheit! Aber vielleicht war es auch der Text, der mich so ergriff. Als Hester das Lied sang, hatte ich nicht auf den Text geachtet, nicht achten können, weil meine Aufmerksamkeit nur darauf gerichtet war, ihr Stümpern durch meine Begleitung zu vertuschen. Aber bei Joanna oder besser: dank Joanna hörte ich den Text Wort für Wort, den Text von Sully-Prudhomme, der von murmelndem Wasser am Fuße einer Weide spricht und der mich in die »Gärtnerei« zurückversetzte, mit ihren wiegenden Zaunwinden, in der ich einen einzigen Sommer zu Gast gewesen war, einen einzigen Sommer gefischt hatte, einen einzigen Sommer, in dem ich vor den querelles du monde, dem Wüten der Welt, verborgen war. Dank Prudhomme und Fauré sah ich das langsam strömende Wasser mit den kreisenden Wirbeln wieder vor mir, und es war, als würde mir ein Versprechen gegeben, daß ich noch einmal die querelles du monde, das Wüten der ganzen Welt, ignorieren könnte, wenn nämlich auch in mein Leben so etwas wie sentir l'amour, devant tout ce qui passe käme, wenn auch ich eine Liebe inmitten von Vergänglichkeit empfinden würde, die nicht vergeht. Vom Flügel aus blickte ich zu Joanna hinüber, und ich überwand für einen Augenblick meine Angst vor Gott, der Moses auf dem Weg in die Herberge zu töten gesucht hatte, und ich stand auf, sagte: »Wie unglaublich schön du das gesungen hast!« Sie lächelte dankbar, und ich legte behutsam den Arm um sie.
So geschah es, daß ich Joanna heiratete. Man könnte vielleicht meinen, daß ich wegen der
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