Das Wüten der ganzen Welt
hätte, einfach ins Café De Moriaan hineinzuspazieren. War Hoekstra der Mörder, dann würde er auf der Stelle durchschauen, daß ich ihn ausspionieren wollte, wenn ich ins De Moriaan kam. Dann würde für ihn nachträglich Grund genug sein, mich wie Vroombout umzubringen. Und dasselbe galt auch, wenn ich dem Organisten Brikke in der Schans begegnen oder an Bäcker Schilder vorbeigehen würde, während er seinen knarrenden Brotkarren durch die Burgemeester de Jonghkade schob.
Zum erstenmal in meinem Leben sehnte ich mich nach so etwas wie einem Freund, einem älteren Bruder notfalls, einem Vertrauten, der mich auf meinem Gang zur Schans und ins Cafe De Moriaan begleiten würde. Zwölf Jahre war ich alt, und da erst begriff ich, daß nahezu jeder Freunde und Brüder und Vettern und Onkel hatte. Nie hatte es mir etwas ausgemacht, daß es sie nicht gab, im Gegenteil, ich war immer stolz darauf gewesen und würde, dessen war ich gewiß, auch wieder stolz darauf sein, wenn ich diesen Auftrag zu einem guten Ende gebracht haben würde.
Um meinen Stolz wiederzuerlangen, mußte ich den Auftrag ausführen. Die Tage verstrichen, ohne daß ich mich Samstag nachmittags traute, auch nur einen Schritt vor die Tür zu setzen. Es war schon gegen Ende Februar, als es an einem Samstag gegen Mittag leicht schneite. Unmittelbar danach klarte der Himmel auf. Die Sonne schien auf eine verzauberte Welt. Eine dünne Schicht unberührten Schnees bedeckte die President Steynstraat. Dank der weißen Pflastersteine schien alles möglich, nichts gefährlich, es war, als ob man in dieser verzauberten Welt, in der alle Geräusche gedämpft klangen, Wunder vollbringen könnte. Als ich die Lagerhaustüren öffnete, hörte ich außer Kinderstimmen das dumpfe Knirschen des Bäckerkarrens mit seinen eisenbeschlagenen Rädern. Ganz in der Nähe der Hafenmole fuhr Schilder in die De La Reystraat, und unbekümmert schlenderte ich durch die dünne Schicht Schnee, in der meine Fußabdrücke zurückblieben. Ich hatte Bäcker Schilder natürlich schon oft gesehen, und doch hätte ich nicht sagen können, ob er Statur und Aussehen des Mörders hatte. Um das zu erfahren, mußte ich ihn sorgfältig von nahem betrachten, mußte ich ihm, wenn irgend möglich, in die Augen blicken. Über den Schnee gleitend, überholte ich ihn so la ngsam wie möglich. Ein einziger Blick genügte. Er konnte es nicht gewesen sein. Sicher, er war mindestens so groß wie der Mann, den ich nur so kurz angesehen hatte, aber jener Mann hatte kerzengerade hinter mir gestanden. Bäcker Schilder dagegen zog beim Gehen die Schultern hoch. Außerdem hatte er blaßblaue, wäßrige Augen, während jener Mann mich mit dunkelbraunen Augen unter mächtigen Brauen zornig angeblickt hatte.
Der Bäcker schob seinen Karren weiter durch den unberührten Schnee. Die eisenbeschlagenen Räder kamen dauernd ins Gleiten. Der Bäcker fluchte, blickte nicht auf, als ich an ihm vorbeikam, sondern hielt seine wäßrigen Augen nur auf die Räder gerichtet, und ich glitt schnell weiter über den Schnee, der im Sonnenlicht funkelte. Vor mir dehnte sich der Fluß, und das glitzernde Wasser blendete in der niedrig stehenden Sonne. Tief atmete ich die prickelnde, kalte Luft ein, und ich roch den Fluß, und es schien, als könnte ich alles wagen. Ganz nah am Rand der Kade lief ich zur Stadt zurück. Hinter den Bahnschranken mußte ich mich doch wieder ermahnen, mußte ich doch wieder diese spröde, kalte Luft tief einatmen, ehe ich mich weiterwagte, am Binnenhafen entlang bis dorthin, wo das große Haupt von De Moriaan an einem Giebel angebracht war. Beim Café angekommen, schien mein Mumm verflogen zu sein. Es fehlte mir der Mut hineinzugehen. So stand ich da, ganz dicht am dunklen Portal, das zum eigentlichen Eingang führte, und ich schaute über das Hafenwasser, auf dem eine Ölschicht glänzte, schaute zum Dach der Grote Kerk hoch, das mit seiner Schneeschicht in der Sonne glitzerte. Neben mir tauchte aus dem Wijden Slop in schlackernder Streifenhose und viel zu großem schwarzem Colbert, eine schwarze Melone auf dem Kopf, ein Männlein auf.
»Einen guten Tag, junger Mann«, sagte er. »Im Namen der sieben Geister hoffe ich nicht, daß Sie, während Sie noch in den Tagen Ihrer Jugend wandeln, schon nach den eitlen Freuden dieser bösen Stätte trachten.«
»Nein, nein«, stammelte ich verblüfft, »nein, ich warte... mein Vater ist vielleicht hier drinnen, und ich wollte... meine Mutter hat mich gebeten, ob
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