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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Frage und tröste einen dann darüber hinweg, daß man die Antwort nie erfahren wird.
    Ja, jener Sommer! Ende Mai hatte ich die Zulassungsprüfung fürs Gymnasium gemacht. Im Juni bekam ich das Ergebnis: dreimal eine Zehn und eine Neun. Da fühlte ich mich fast so brillant wie Herman, den ich immer noch nicht zu sprechen bekam. Einmal sah ich ihn, als ich auf der Govert van Wijnkade ging, auf der gegenüberliegenden Seite des Wassers, auf der Havenkade, neben einem Mädchen dahinschlendern. Er schien voller Ungeduld, es war, als wolle er immer schneller gehen als das Mädchen und hielte sich nur zurück. Er redete ununterbrochen auf das Mädchen ein. Immer wieder schob er sein Brillengestell hoch. Sie ging in aller Seelenruhe einen halben Schritt hinter ihm im grellen Sonnenlicht. Sie hatte rötliches Haar, sie trug wie er eine Brille. Obwohl ich sie, mit all dem Wasser und all diesen Binnenschiffen zwischen uns, nicht genau erkennen konnte, mußte ich sie denn wohl mögen, da sie ja offenbar das Mädchen war, das Herman schon seit dem Kindergarten hatte haben wollen. Ich lief ganz nah am Wasser entlang und versuchte, etwas mehr von ihr zu erkennen, aber auf all den Binnenschiffen flatterten blendend weiß gewaschene Bettücher an Leinen, die von der Kajüte zum Vormast gespannt waren.
    Am Ende des Sommers schlenderte ich eines Nachmittags am Fluß entlang. Bei einer Leuchtbake setzte ich mich auf die warmen Basaltblöcke, Die Sonne schien mir ins Gesicht, ich schloß die Augen und döste vor mich hin. Halb schlafend, halb wachend vertrödelte ich so meine Zeit, bis jemand mir zurief: »Was tust du denn da?«
    »Meditieren«, sagte ich.
    »Dazu bist du noch zu jung«, sagte er. »Zufall, daß ich dich hier treffe, ich muß dir schon lange was erzählen.«
    »Du hast ein Mädchen.«
    »Ja, ich hab's geschafft. Warte, komm rauf, dann werde ich dir's genau erzählen.«
    Er faßte mich bei der rechten Hand und zog mich hoch. Wir gingen am salzig riechenden Wasser entlang, und er sagte: »Es war gar nicht mal so leicht. Wenn sie nun auch aufs Gymnasium ginge, dann hätte ich mich zum Beispiel in der Pause auf dem Schulhof an sie ranmachen können, aber sie geht hier zur Schule, und mich nun dort hinstellen und warten, bis die Schule zu Ende ist, und dann... nein, das ist nichts für mich, nein, das hab ich ganz anders angepackt, ich bin einfach zu ihr nach Hause gegangen, ich habe geklingelt, und als ihre Mutter die Tür öffnete, habe ich gesagt: ›Mevrouw Robbemond, die Sache ist die: Ich bin schon seit zwölf Jahren in Ihre Tochter verliebt, und nun könnte ich es so wie andere Jungen machen, hinter ihr herlaufen oder ein bißchen um sie herumschleichen oder so etwas, sie abpassen, wenn sie aus der Schule kommt, oder mich in der Kirche zufällig neben sie setzen, aber das geht mir gegen den Strich. Ich bin froh, daß ich Sie hier an der Tür treffe. Wenn Sie mich nun zu einer Tasse Tee hereinbitten würden, könnten Sie mich etwas kennenlernen, und vielleicht könnten Sie, wenn Sie den Eindruck haben, daß ich später ein geeigneter Mann für Ihre Tochter wäre, bei ihr ein gutes Wort für mich einlegen.‹ Ihre Mutter schaute mich entgeistert an, lachte dann aber laut und sagte: ›Na, dann komm mal rein.‹ Ich also rein, und ich sitze da, und ich bekomme zwei Tassen Tee und eine einzige Brezel, ich rede mit der Mutter, und Janny sitzt auch da, aber sie sagt nichts, blickt mich nur ab und zu an. Nach einem Stündchen bin ich wieder gegangen, und zwei Tage später hab ich wieder geklingelt und hab wieder eine Tasse Tee getrunken und ein Sandtörtchen gegessen und die ganze Zeit mit ihrer Mutter geredet. Ich tat so, als sei ich nur zu ihrer Mutter gekommen, ich tat so, als würde ich sie überhaupt nicht bemerken. Das hab ich vier Wochen so durchgehalten. Erst ging ich jeden zweiten Tag hin, später ging ich jeden Tag.«
    Er schwieg, stieß ein Steinchen über die Basaltblöcke, und ich sagte: »Los, komm, erzähl weiter.« »Da gibt's nichts weiter zu erzählen. Sie wurde nach den vier Wochen, in denen ich nicht ein einziges Mal etwas zu ihr gesagt oder sie etwas gefragt habe, feuerrot, als ich ihr einmal direkt in die Augen schaute, während ihre Mutter gerade aus dem Zimmer ging. Dann sagte ich zu ihr: ›Was hältst du davon, wenn ich dich morgen früh zur Kirche abhole?‹ Da wurde sie noch röter, sagte gar nichts, und ich sagte: ›Ich bin um halb zehn hier.‹«
    Er stieß wieder ein Steinchen über die

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