Das Wüten der ganzen Welt
Hand zum Abwiegen, das muß ich ausnutzen. Und spiel schön laut, so daß wir es unten hören können!«
Der Regen klatschte gegen die Scheiben. Der Wind sang in den Ritzen der Schiebefenster. Erst nach einer halben Stunde war ich soweit, daß ich mich traute, wirklich dagegen anzuspielen. Was habe ich damals, an diesem endlosen Nachmittag, auf diesem phantastischen Bösendorfer gespielt? Vielleicht ist es nicht überflüssig mitzuteilen, daß ich stundenlang an den f- moll- Variationen von Joseph Haydn geübt habe, auch wenn die Geschichte, die ich hier erzähle, nicht unbedingt dadurch gewinnt, obwohl die Erfahrung lehrt, daß niemals etwas aus Zufall geschieht.
Am Ende des Nachmittags öffnete er vorsichtig die Tür, die er vorhin so schwungvoll aufgestoßen hatte. Sofort hörte ich auf zu spielen. Er sagte: »Nein, nein, spiel wenigstens bis zu einem richtigen Schlußakkord, dann habe ich noch Zeit, eine Flasche Sylvaner zu öffnen.«
Bei mir zu Hause wurde nur an Geburtstagen etwas getrunken. Und selbst dann wurde niemals eine Flasche Wein geöffnet, sondern mein Vater löffelte ein Glas boerenjongens (Weinbrand auf Rosinen, mit Löffel in großem Glas serviert. (Anm. d. Übers.)) leer und meine Mutter trank ein Gläschen Advokaat, und dabei murmelten sie: »Gut, daß wir keine Verwandtschaft haben, sonst m üßten wir denen auch noch was einschenken. Das würde ein hübsches Sümmchen kosten.« Manchmal ließen sie mich einen Löffel voll probieren.
Es war, als wüßte Minderhout das; er sagte, als er mir ein Glas einschenkte: »Du bist es sicher nicht gewohnt, einfach mal ein Glas Wein zu trinken? Dann sei vorsichtig, Alkohol wird schon durch die Zunge in die Blutbahn aufgenommen! Ein Schluck, und deine ganze Chemie steht kopf!«
Wir saßen zu beiden Seiten eines glühenden Kohleofens. Der Regen peitschte noch immer gegen die Scheiben. Er fragte: »Und? Hat's dir gefallen?« »Es ist ein prächtiges Instrument«, sagte ich. »Das hättest du auch gern anders sagen dürfen«, sagte er. »Nun gut, nachdem wir das also festgestellt haben, darf ich dir vielleicht folgenden Vorschlag machen. Hier bei uns ist voriges Jahr dreimal eingebrochen worden - du faßt es nicht, wie das möglich ist, mit dem Polizeibüro auf der anderen Seite vom Markt. Seitdem wagen wir es nicht mehr, abends und sonntags wegzugehen. Daher suchen wir schon seit einiger Zeit jemanden, der auf Haus und Apotheke aufpaßt, wenn wir einmal ausgehen wollen. Es ist natürlich die Frage, ob uns die Einbrecher weiterhin die Tür einrennen werden, denn, na ja, soviel ist hier nun auch wieder nicht zu holen, aber es würde der Gemütsruhe meiner Frau guttun, wenn - zum Beispiel - du hier spielen würdest, während wir weg sind. Was hältst du davon?«
»Ja«, sagte ich vorsichtig, »ja, das wäre...« »Na, siehst du, das ist dann also auch geregelt, das erspart uns einen Wachhund.«
Er schenkte mein halbleeres Glas wieder voll, sagte: »Du hältst dich gut ran, obwohl du nicht ans Trinken gewöhnt bist. Hast du eigentlich schon eine Idee, was du später werden willst?«
War es der Alkohol, an den ich tatsächlich nicht gewöhnt war und der mir die Antwo rt eingab, worüber ich sogar jetzt noch verblüfft bin?
»Komponieren.«
»Ja, wer wollte das nicht«, sagte er, »aber damit kannst du keinen Blumentopf gewinnen. Und außerdem: Wenn du in der Musik etwas erreichen willst, mußt du unglaublich gut sein, du hast so viele Konkurrenten, die alle dasselbe wollen. Wenn du die Musik wirklich liebst und sie auch weiterhin lieben willst, mußt du sie zu deiner Geliebten machen. Du darfst sie niemals heiraten. Nimm dir mich zum Vorbild: Werde doch Apotheker! Heilmittel - daran wird viel sauberes und schmutziges Geld verdient, und du hast letztlich wenig Arbeit damit. Einen Tag in der Woche Wiegen und Mischen, damit kömmst du ganz schön weit; den Rest kannst du deinen Mitarbeiterinnen überlassen, wenn sie nur ein bißchen geschickt sind. Aber danach kannst du sie ja aussuchen. Lieber geschickt als hübsch, sag ich immer. Wenn sie wirklich hübsch sind, besteht immer die Gefahr von Wald-, Heide- und Dünenbrand.«
»Wald-, Heide- und Dünenbrand?« fragte ich verblüfft.
»Na ja, ich meine, daß man sich vorsehen muß, nicht die Fassung zu verlieren bei einem süßen Frätzchen... Man sagt zwar: Schau aufs Herz, nicht aufs Gesicht, ein schönes Gesicht langweilt dich schnell, aber das ist deinen Hormonen scheißegal.«
Er schenkte mein Glas
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