Das Wüten der ganzen Welt
Teezeit mit seinem Sohn zu uns. Wenn ich daran zurückdenke, erscheinen mir »die Tage meiner Jugend« doch wieder, um mit dem Wort des Herrn zu sprechen, als »trügerische Träume«. Douvetrap war ein älterer, gebeugter, melancholischer Mann. Erst nach zwanzig Jahren Ehe war seine Frau schwanger geworden. Schon bald nach der Geburt des Kindes war die Freude darüber in Kummer umgeschlagen. Der Junge war mongoloid. Immer lief Douvetrap mit dem Kind an der Hand durch die Straßen. Er nahm das Kerlchen sogar mit ins Büro. Es begleitete ihn auch, wenn er durch die Stadt wanderte, um die harmlosen Verbrechen eines Hafenstädtchens aufzuklären. Es scheint mir nicht ausgeschlossen zu sein, daß der Anblick des Kleinen, der immer quengelte und nur »wah, wah« sagen konnte, Hehler und Taschendiebe weniger auf der Hut sein ließ, als es bei einem Verhör notwendig gewesen wäre. Vielleicht war es - unbeabsichtigt - eine verblüffend schlaue Form von Verbrechensbekämpfung. Auf mich verfehlte das greinende Kind, das in einem fort nickend am Wohnzimmertisch saß und mit dem wohl von der Straße aufgelesenen Glied einer Ankerkette rhythmisch auf die Tischdecke schlug, seine Wirkung jedenfalls nicht. Gott sei Dank hatte ich damals noch nicht im Haus von Minderhout herumgeschnüffelt, sonst hätte ich Douvetrap vielleicht doch erzählt, worauf ich dort gestoßen zu sein meinte. Nun wiederholte ich nur, was ich schon Graswinckel unter den Sternbildern gebeichtet hatte.
»So kommen wir nicht weiter«, sagte Douvetrap, »aber das hatte ich auch nic ht erwartet, ach, es ist schon wieder so lange her, aber es war ein Kollege, und da ist man doch geneigt, etwas härter vorzugehen. Ich kann dir jetzt nur noch ein paar Fotos zeigen.«
Er nahm einen Packen Fotos aus der Innentasche seines beigefarbenen Regenmantels und legte sie vor mich hin.
»Sieh sie einmal in Ruhe durch«, sagte er.
Es waren alte Fotos, viele davon waren schon braun geworden. Oder vielleicht waren sie immer braun gewesen, das weiß ich nicht. Alle trugen die Aufschrift »Atelier Colthoff«, und alle zeigten zwei Menschen, von denen der eine stand und der andere auf einem viereckigen Korbstuhl saß. Während ich mir diese Fotos mit den mir unbekannten Menschen ansah, hatte ich das Gefühl, daß auch von mir bald nur noch ein Packen armseliger brauner Fotos übrig sein würde.
Auf einem der Fotos war meine Klavierlehrerin zu sehen. Sie saß auf dem Korbstuhl; neben ihr stand ein mir unbekannter Mann. »Das ist meine Klavierlehrerin«, sagte ich.
»Ja«, sagte Douvetrap, »es ist ein Foto, das kurz nach ihrer Hochzeit aufgenommen worden ist. Er fuhr nach Harwich und Hull, da sind sie getraut worden, glaube ich, er hat sie aus England herüberkommen lassen. Und dann ist er auf einmal durchgebrannt.«
»Jedenfalls ist das nicht der Mann... na ja, hier ist er noch jung, inzwischen wird er natürlich anders aussehen, aber warum sollte er...?«
»Warum nicht? Solange wir nicht wissen, wer es getan hat, kann es jeder gewesen sein, der jemals irgend etwas mit Vroombout zu tun gehabt hat. Dieser Mann war mit ihm in derselben Klasse, in der Kuyper-Boone-Schule. Sie kämpften immer wie wilde Tiere miteinander.«
»Ja, aber was Kinder...«
»Du würdest überrascht sein, wenn du wüßtest, wie oft ich es erlebe, daß Mord oder Totschlag die Begleichung einer alten Rechnung aus der Zeit der Kindheit ist. Was Schulkinder einander antun, kann fünfzig, sechzig Jahre später noch zum Mord führen. Schulfreunde können einander zutiefst demütigen. Kinder, vor allem Jungen, sind mitleidslos. Denk an dich selbst. Bist du niemals von fünf, sechs Gleichaltrigen ausgelacht worden, nachdem sie dich vorher irgendwie übertrumpft oder furchtbar gepiesackt haben? Ist dir das nie passiert?«
»Einmal, im Schwimmbad, hat mich ein Junge, den ich kaum kannte, als ich gerade aus dem Wasser wollte und schon an der Treppe war, mit beiden Füßen runtergedrückt und mich...«
»Genau«, sagte er, »nun, das wirst du nie vergessen. Begegnest du diesem Kerl, der dir das angetan hat, später irgendwo, und du kannst ihm auf irgendeine Art ein Bein stellen, dann wirst du es nicht lassen. Na ja, aber ob Vroombout deshalb... hier, sieh noch mal weiter.« Er reichte mir einen zweiten Packen Fotos. Dabei war ein anderes Foto mit meiner Klavierlehrerin darauf. Unscharf jetzt und in einem altmodischen Badeanzug. Offenbar war das Foto am Strand in Hoek van Holland aufgenommen worden. Undeutlich
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