Das Wüten der ganzen Welt
willst du unheimlich gern darin auf die Straße. Ich bin einmal rundherum gegangen, durch die Hoogstraat und die Veerkade. Und da ich keinen Schlüssel hatte, mußte ich die Tür wohl oder übel angelehnt lassen.« »Bist du jemandem begegnet?« »Zwei Menschen, aber die guckten nicht mal.« »Hast du das schon öfter gemacht?« »Wenn ich die Möglichkeit habe, tu ich es. Ich weiß auch nicht, wie es kommt, ich hab immer ein Mädchen sein wollen, schon von klein auf, ich kann nichts dagegen tun, wirklich nicht. Das gab's öfter, sagte Arend immer.«
»Wußte Vroombout davon?« fragte ich erschrocken.
»Bei ihm zu Hause habe ich mich ab und zu, nun ja, oft... und dann gingen wir zusammen auf die Straße, dann war es genau so, sagte er immer, als wenn er mit seiner Tochter spazierenginge.«
»Aber wie bist du denn an die Sachen gekommen?«
»Er hatte ein paar Dinge für mich gekauft.«
Lange Zeit blickten wir einander nur einmal scheu in die Augen und dann wieder eine Weile voneinander weg. Erst als wir später am Abend an der vertrauten Havenkade entlanggingen, spürte ich, wie sich langsam, zumindest bei mir, die Scham löste. War das bei ihm auch so? In jedem Fall sagte er am Bahnübergang leichthin: »Wir wissen jetzt, wie wir Minderhout den Vornamen des Mörders entlocken können. Du setzt den Hut auf, ziehst den Mantel an und drapierst dir den Schal vor den Mund. Dann gehst du so lange auf der Straße spazieren, bis du Minderhout von weitem kommen siehst. Dann gehst du um eine Ecke und wartest, bis er von der anderen Seite um die Ecke biegt, so daß er dich nicht gleich ankommen sieht. Zehn zu eins sagt er, wenn er um die Ecke kommt: ›He, Pleun‹ oder ›He, Gerard, was machst du denn hier?‹ Und dann wissen wir den Vornamen des Mörders.«
Und wie wir dort am Übergang warteten, wo natürlich wieder so ein eiliger Zubringerzug vorbeifuhr, erschien mir dies, naiv, wie ich damals war, wie eine Jakobslist. Später im Bett wußte ich jedoch, daß ich es nie wagen würde, in diesen Kleidern durch die Straßen zu gehen. Außerdem würde ich sie dann erst stibitzen müssen. Dann überlegte ich: »Aber es hat auch überhaupt keinen Sinn, denn gesetzt den Fall, daß man auf diese Weise den Vornamen des Mörders erfährt: Was hat man davon? Nur wenn der Mann Bonifatius oder Rembrandt hieße, also nur, wenn er einen sehr ungewöhnlichen Vornamen hätte, würde einen das weiterbringen.«
Silvesterabend
Auf den warmen Sommer folgte ein unfreundlicher Herbst, in dem William und ich es sorgsam vermieden, über unsere Bekleidungseskapaden zu sprechen. Selbst über den Mord an Vroombout redeten wir an unseren Musikabenden kaum noch. Die Tage verstrichen mit den Flötensonaten von Bach und den Variationen von Ihr Blümlein alle von Schubert. Wie oft wir diese Variationen spielten! Wir waren hingerissen davon.
Wir spielten sie auch am Silvesterabend bei Minderhout zu Hause. Er hatte uns gebeten, ihn an diesem Abend »mit Flöte und Klavier bis Mitternacht Schlag zwölf zu begleiten, denn ich bin allein zu Hause: Meine Frau feiert den Jahreswechsel bei ihren Eltern«.
Nachdem wir unser ganzes Repertoire durchgespielt hatten, blieben noch zwei Stunden bis Mitternacht.
»Nun geht's ans Saufen«, sagte Minderhout. Er schenkte wie immer Weißwein ein. Er sagte: »Ja, wir wollen uns ranhalten. Sie brauchen da in Rußland schließlich, wenn sie wach werden, nur ein einziges Mal aus Versehen nicht auf den Knopf des Weckers zu drücken, sondern auf einen anderen Knopf, und uns gibt es nicht mehr.«
»Wirklich?« fragte William.
»Aber ganz bestimmt«, sagte Minderhout. »Laßt uns essen und trinken und fröhlich sein, denn morgen sind wir tot, wie die alten griechischen Philosophen schon gesagt haben.«
Wir schauten wohl so skeptisch, daß er locker hinzusetzte: »Früher, als ich so jung war wie ihr jetzt, dachte ich auch anders, damals dachte ich noch, das Leben sei reich und vielfältig, und ich wollte diese Vielfalt ganz und gar ergründen. Daher habe ich alle Philosophen dort stehen.«
Er wies schwungvoll zum obersten Bord seines Bücherschranks, wo Schopenhauer neben Vloemans stand.
»Philosophie«, sagte er halb spottend, »war meine große Leidenschaft, als ich zwischen zwanzig und dreißig war. Ich habe noch Vorlesungen von Bolland gehört, ich habe sogar den Nazi Heidegger gelesen und Husserl, und ich war vor allem begeistert von den Philosophen des Wiener Kreises, Carnap und all den Leuten, dem
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