Das Wüten der ganzen Welt
logischen Positivismus... Ach ja, alles wunderbar, aber eins will ich euch sagen, dann könnt ihr euch die Zeit sparen: Man hat überhaupt nichts davon. Natürlich: Schopenhauer zu lesen ist umwerfend, aber kein Schwanz gla ubt wirklich an diesen Weltenwillen. Und dabei ist er von allen Philosophen noch derjenige, der am besten schreibt! Aber lest mal Heidegger und wurstelt euch durch die Logischen Untersuchungen von Husserl hindurch - laut Bertrand Russell eines der gewaltigsten philosophischen Werke unseres Jahrhunderts. Wenn man zum Schluß nach tagelangem, was sage ich: wochenlangem Studium mit seinem Latein am Ende ist, steht man mit leeren Händen da.«
Er schenkte sein leeres Glas wieder voll, er sagte: »Und selbst dieser Schopenhauer! So gut er auch schrieb... und Gott weiß, daß ich ihn angebetet habe. Bis ich sein Büchlein Über das Sehn und die Farben las. Zaubert er da im Handumdrehen eine Farbenlehre aus dem Hut. Hundert Jahre nach Newton bringt er es fertig, ein Büchlein vollzuschreiben mit dem größtmöglichen Unsinn über das Sehen und die Farben. Und das ist dann auch danach. Aber die Anmaßung dieses Mannes! Ich werde mal schnell das Problem der Farben lösen. Und dann ein solches Büchlein, ein so unglaublicher Schwachsinn...«
Er nahm nachdenklich einen Schluck Weißwein und sagte: »Die ganze Philosophie! Dabei geht es im Leben doch nur ums Silber und«, er hob sein Glas, »um den Sylvaner... Nur Messen ist Wissen, nur Naturwissenschaft hat Bedeutung, Philosophie hinkt mindestens Jahrhunderte hinterher, ist demzufolge Unsinn, ist Lärm an Purim, wie mein guter Freund...«
Er schüttelte einmal ganz schnell den Kopf und sagte: »Ob ihr wohl den Schubert noch einmal spielt? Allein für die dritte Variation können sie von mir aus die gesamte seit Jahrhunderten angehäufte Philosophie getrost auf dem Schuttabladeplatz deponieren.«
Schon nach wenigen Takten zeigte es sich jedoch, daß ein präzises Zusammenspiel, obgleich wir erst wenig Alkohol im Blut hatten, nicht mehr möglich war. Minderhout sagte: »Nun, dann legen wir doch eine Platte auf, ja, laßt die Philosophen nur das Problem lösen, warum Musik wirkt, wie sie wirkt und warum Musik für den Menschen mehr bedeutet als irgend etwas anderes. Warum ist das eigentlich so, habt ihr irgendeine Idee?«
»Weil sie einen so rührt«, sagte William.
»Ach komm«, sagte Minderhout, »das ist nicht die Antwort, sondern die Frage. Warum rührt sie uns so? Warum rührt sie uns mehr als alles andere?«
»Weil...«, sagte ich, »weil...«
»Ha, du weißt es auch nicht«, sagte er, »nun, ich auch nicht, aber ich habe eine Theorie. Ich glaube, es kommt daher, weil das Gehör als erstes von den Sinnesorganen arbeitet. Schon im vierten Schwangerschaftsmonat kann ein Kind hören. Tast-, Geruchs-, Sehsinn - die arbeiten noch nicht, können noch nicht arbeiten. Aber das Gehör arbeitet schon, das Kind hört die Stimme der Mutter, und es scheint sie sehr bald wiederzuerkennen. In der Gebärmutter ist alles nur Hören. Da gibt es den vertrauten Rhythmus des Herzschlags der Mutter, ihre Stimme, und wenn sie singt... Meine Theorie ist, daß Menschen musikalisch sind, wenn sie eine Mutter hatten, die während der Schwangerschaft viel gesungen hat.«
»Stimmt bei mir schon mal nicht«, sagte ich, »meine Mutter singt niemals und hat unter Garantie auch nie gesungen, als sie mit mir schwanger war.«
»Na ja, aber du hast doch in ihrem Bauch monatelang zweimal sonntags in der Kirche schon all den Psalmengesang angehört, vielleicht daß dadurch der fehlende mütterliche Gesang kompensiert worden ist«, sagte Minderhout.
»Meine Mutter singt auch nie«, sagte William.
»Nein, aber du hast neun Monate lang tagaus, tagein Klavier gehört. Meiner Meinung nach hat Musik daher etwas mit unseren tiefsten Emotionen zu tun, weil wir schon damit vertraut werden, lange bevor unser Gehirn etwas anderes in sich aufnimmt. Und das Verrückte bei der Musik ist auch: Die Rührung oder Emotion, oder wie man es auch nennen will, ist stärker als irgend etwas anderes, aber diese Emotion ist zugleich flüchtig, zieht rasch vorüber. Es ist, als seien wir, wenn wir der Musik lauschen, noch immer in der Gebärmutter und horchten auf den Herzschlag unserer Mutter, aber wir haben noch keine Worte, um uns selber klarzumachen, was wir erleben.«
»Also, davon glaube ich kein Wort«, sagte William.
»Wovon?« fragte Minderhout. »Von meiner Theorie? Dann laß dir eins sagen:
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