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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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im Adelsstand!« Dann ließ sie sich zum zweitenmal auf mich herabfallen. Alles, was zuvor geschehen war, geschah ziemlich genauso noch einmal, mit dem einzigen Unterschied, daß ich dabei durch einen Orgasmus und einen Hauch von Schmerz über mich selbst und alles, was mich belastete, hinauswuchs, während ich gleichzeitig dachte: Das ist völlig anders, als wenn du selber Hand anlegst.
    Mitten in der Nacht wachte ich auf. Die Leuchtzeiger ihres Weckers zeigten zehn nach drei. Sie lag neben mir, sie schnarchte leise. Es war nicht ganz dunkel, so daß ich ihr Gesicht erkennen konnte. Sie hatte offenkundig, als ich schon schlief, die ganze Kriegsbemalung entfernt. Ihr Gesicht sah jetzt grau und vor allem alt aus, sehr alt; sie war beinahe nicht wiederzuerkennen. Und doch war es nicht der Anblick ihres Gesichts, weshalb ich beschloß, vorsichtig aufzustehen. Hätte ich damals nur schon gewußt, daß der Mensch um drei Uhr nachts - ist das der Zeitpunkt, den wir »mitten in der Nacht« nennen? -, zwei Stunden, bevor die Körpertemperatur ihren niedrigsten Wert erreicht, eine Phase von großer Niedergeschlagenheit durchmacht. Bei depressiven Menschen ist es übrigens genau umgekehrt; sie sind um drei Uhr nachts für eine Weile etwas weniger unglücklich, und deshalb kann es therapeutisch befreiend wirken, sie zu diesem Zeitpunkt zu wecken.
    Als ich mich behutsam aus dem Bett gleiten ließ, wußte ich das alles nicht, es schien mir, als würde diese erstickende Niedergeschlagenheit fortan jede nur denkbare Stimmung überschatten. Seltsamerweise habe ich damals das Beste getan, was ich tun konnte: mich bewegen. Wäre ich neben ihr liegengeblieben, hätte ich meine beginnende Selbstmordstimmung wahrscheinlich schwer überwunden.
    Es ließ sich nicht vermeiden, daß ich beim Anziehen Geräusche verursachte, aber sie schnarchte sanft weiter, und ich verließ ihr Zimmer, ging die Treppe hinunter, öffnete die Haustür und fühlte mich, nachdem ich sie hinter mir geschlossen hatte, sofort weniger elend. Als ich durch die noch immer warme Nacht lief, konnte ich schon wieder mit mir selber reden. Es ist eigenartig: Kommt einem jemand auf der Straße entgegen, der laut mit sich selber redet, ohne daß ein anderer bei ihm ist, erklärt man ihn ohne weiteres für halb verrückt. Und doch ist, wie ich gemerkt habe, nichts so befreiend, als laut mit sich selber zu reden, während, wie unser Dichter Nijhoff (Martinus Nijhoff (1894-1953), einer der namhaftesten niederländischen Dichter, schrieb Naturlyrik mit teilweise religiösen Motiven und geistliche Theaterstücke, (anm. d. Übers.)) sagt, unser einsames Leben durch die Straßen wandert. Die Straßen waren menschenleer, so daß ich mir erlauben konnte, zu mir selber zu sagen - nicht allzu laut versteht sich: »An allem ist der Mord an Vroombout schuld. Wäre dieser Mord nicht geschehen, hätte ich Minderhout nie kennengelernt und wäre ich nie auf die Idee gekommen, Pharmazie zu studieren. Dann wäre ich nie Professor Edersheim begegnet, wäre nie mit seiner Tochter am Kanal entlangspaziert. Dann wäre ich auch nie Yvonne Kogeldans begegnet... nun gut, was heute nacht, was gestern abend passiert ist, kommt daher, weil ich mich so elend fühlte, weil Hester nie... mit mir... aber Hester wäre ich auch nie begegnet, wenn Vroombout noch lebte. Professor Edersheim hat mich nur zum Musizieren eingeladen, weil er auf irgendeine Weise in den Mord verwickelt ist und mich, der gegen ihn würde aussagen können, vorsorglich ausschalten wollte...«
    Während ich das halb laut zu mir sagte, erklang sofort die Gegenstimme in meinem polyphon komponierten Gedankengespinst. »Es ist Unsinn zu denken, daß Edersheim in den Mord verwickelt ist. Du hast keinen einzigen Hinweis. Denn welches Motiv um Himmels willen sollte er haben?«
    Zu den beiden Stimmen fügte sich noch eine dritte: »Blödmann, geh doch zu Minderhout und zu deiner Klavierlehrerin und zu Edersheim. Wirf ihnen alles, was du weißt, vor die Füße. Sag ihnen: Ihr seid darin verwickelt, sagt mir um Gottes willen wie, sagt mir, wer es getan hat, denn mein ganzes Leben gerät dadurch in Unordnung. Ihr müßt mir sagen, wer den Schuß abgegeben hat, und wenn es nur wäre, damit ich weiß, vor wem ich auf der Hut sein muß. Seit dem Mord läuft mein Leben nicht mehr richtig; seht euch nur die vergangenen vierundzwanzig Stunden an. Denkt ihr, daß ich sonst jemals bei einer solchen Hexe im Bett gelandet wäre? Verleugne ich damit nicht

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