Das Wüten der ganzen Welt
sagte: »Warum horchen Sie mich denn auch aus? Gehen Sie doch weg, gehen Sie doch bitte weg, Sie sind doch fertig? Warum sitzen Sie denn noch da, gehen Sie bitte weg. Barra, aus, laß den jungen Mann gehen.«
Widerstrebend nahm der Bouvier seine Vorderpfoten von meinen Schultern. Vorsichtig stand ich auf. So ruhig wie möglich ging ich zur Zimmertür. »Auf Wiedersehen, Mevrouw«, sagte ich, aber ich glaube nicht, daß sie mich hörte. Der Bouvier knurrte. Gleich nachdem ich die Zimmertür geschlossen hatte, begann er wütend zu bellen. Er warf sich gegen die Tür, und ich rannte durch den Flur, schloß die Haustür auf, und schon fuhr ich mit meinem Fahrrad unter dem strahlendblauen Himmel davon, an dem nun kein Wölkchen mehr zu sehen war. Auf dem Deich hatte ich die Meeresbrise von vorn, aber das machte mir nichts aus, denn es war noch immer Sommer, auch wenn die Wellen auf dem Waterweg kleine Schaumkronen hatten. Was die alte Dame erzählt hatte, schien zu simpel, um wahr zu sein. Auch wenn es stimmte, daß Vroombout immer wieder Briefe geschrieben hatte, um die Flüchtlinge anzumahnen, sie sollten Schadenersatz für den Verlust des Kutters leisten oder, wenn sie dazu nicht bereit waren, in jedem Fall wenigstens ihre Überfahrt bezahlen, würde dann tatsächlich auch nur einer von ihnen auf die Idee gekommen sein, deswegen Vroombout zu ermorden? Das erschien mir damals in dem wunderbaren, umflorten Septembersonnenlicht höchst unwahrscheinlich. Damals wußte ich noch nicht, wie verbittert wir werden können, wenn jemand uns, stets von neuem, einer Sache wegen für schuldig hält, an der wir unserer Meinung nach keine Schuld haben. Eigentlich hätte ich das, als ich damals auf dem Deich dahinfuhr, durch Hermans Vergebungssucht schon wissen können, aber ich w ar wie immer zu naiv, es war nur, als bliese der Gegenwind alle Wahngebilde davon.
Soviel war sicher: An jenem Samstag hatten die Flüchtlinge mit Vroombout über den Weihnachtsbrief sprechen wollen, den sie auch in dem Jahr wieder von ihm empfangen hatten. Vielleicht hatten sie ihm einen Vorschlag machen wollen, vielleicht hatten sie mit ihm über einen Geldbetrag verhandeln wollen, für den er wiederum von weiterer Korrespondenz absehen sollte. Wahrscheinlicher war es, daß sie ihm hatten sagen wollen: »Kann es denn zum Donnerwetter nun endlich mal vorbei sein mit diesen Stinkbriefen?» und daß sie deshalb fast alle oder, wenn der Dirigent auch dabeigewesen war, vielleicht sogar vollzählig anmarschiert waren, um ihn durch ihre erdrückende Übermacht fertigzumache n. Alle gegen einen, und gerade das machte es für mich unwahrscheinlich, daß sie mit der Absicht gekommen waren, ihn umzubringen. Das tat doch eine Gruppe nicht? Das würde viel zu sehr auffallen. Außerdem tat man das nicht während einer Evangelisationsversammlung. Nein, was sich auch immer dort abgespielt hatte, sie konnten nichts mit dem Mord zu tun haben.
Eigenartig, daß ich diesen Klavierstimmbesuch bei Vroombouts Mutter damals als etwas erlebt habe, was mich erleichterte. Es ist viel schwieriger, sich nach Jahren noch an etwas zu erinnern, was man damals gedacht hat, als an das, was damals geschah, aber ich weiß genau, daß ich, während ich damals in dem wunderbaren Licht dahinradelte, immer wieder laut gesagt habe: »Gott sei Dank, endlich bin ich es los, endlich weiß ich, warum sie da standen, Gott sei Dank, dann kann ich es nun endlich abtun, vergessen, Gott sei Dank, nun kann ich endlich meiner Klavierlehrerin, Minderhout und den Edersheims in die Augen sehen.«
Besuch
Sie hielten einander so fest eingehakt, als wollten sie sich gegenseitig vorm Hinfallen schützen. In der grellen Morgensonne konnte ich sogar vom zweiten Stock aus sehen, wie bleich ihre Gesichter waren. Mein Vater zog ein Bein nach. Meine Mutter trug ihren langen, stark taillierten, aschfarbenen Mantel. Mühsam stolperten sie über das Kopfsteinpflaster vorwärts. Ich schaute aus meinem Zimmer durch die Bogenfenster auf sie hinunter, und es war, als hörte ich Pastor Dercksen über den Bibeltext predigen: »Wer seinem Vater und seiner Mutter flucht, dessen Leuchte erlischt in der Zeit der Finsternis.«
Fast ein Jahr lang wohnte ich nun schon an der Hooglandse Kerkgracht. Jedesmal wenn ich ein Wochenende im Monat in der President Steynstraat zubrachte, hatte mein Vater leichthin gesagt: »Wenn es bei uns paßt, kommen wir mal vorbei.«
Es klang, als wolle er sagen, daß er nicht die Absicht habe,
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