Das Wunder der Liebe
gefangen.
Kopfschüttelnd verschränkte Wren die Arme vor der Brust.
Was sollte sie tun? Sie könnte den Mann bitten, ihr Haus zu verlassen. Aber dagegen sprach, dass er krank war. Kein guter Mensch würde selbst einen Hund bei diesem Wetter hinausjagen. Trotzdem hatte sie Angst, mit ihm unter einem Dach zu bleiben. Sie hatte Angst vor ihren eigenen Gedanken, vor ihren eigenen Gefühlen.
Nun, wenn er über Weihnachten bleiben musste, brauchte sie ein Geschenk für ihn. Aber was? Wren nagte an ihrer Unterlippe und überlegte. Sie könnte ihm einen Pullover stricken.
In zwei Tagen?
Das würde sie schaffen. Wenn sie heute noch anfangen und bis in die Nacht arbeiten würde. Sie würde sowieso nicht schlafen können. Nicht, wenn Keegan im Zimmer neben ihrem schlief.
Also warum nicht? Nächstenliebe und Geben gehörten doch zu Weihnachten. Und sie wären beide nicht allein. Keegan und sie hätten sich.
Plötzlich brach eine Lebensfreude in ihr hervor, die sie seit vielen Jahren nicht mehr empfunden hatte. Wren erhob sich und lief in den Flur. Wenn sie genügend Zeit hätte, könnte sie ihm vielleicht auch noch einen passenden Schal stricken.
Sie lief an seiner Tür vorbei und wollte gerade ins Nähzimmer gehen, als sie ein seltsames Geräusch hörte. Sie blieb stehen und lauschte.
Was war das?
Es war ein eigenartiges, erstickt klingendes Geräusch. Wren blieb ganz still stehen und wagte kaum zu atmen, während sie noch genauer hinhörte.
Da war es wieder. Das Geräusch von heftig gehendem Atem, von erstickten Lauten. Von unterdrücktem Weinen!
Die Tür war nur angelehnt, und Wren schlich ein paar Schritte vorwärts, stieß die Tür noch eine n Zentimeter weiter auf und schaute in die Dunkelheit.
Sie sah Keegan gebeugt auf dem Bett sitzen, als ob er Schmerzen hätte. Er hatte den Kopf in die Hände gelegt, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Er bot ein Bild tiefer Verzweiflung.
Machte ihr Phantasie ihr nur etwas vor? Oder weinte dieser starke Mann tatsächlich?
Bestürzt blinzelte Wren eigene Tränen weg. Tränen des Mitgefühls. Wie viele Nächte hatte sie selbst geweint, allein, verzweifelt, ohne Hoffnung. Aber sie hätte niemals Tränen bei diesem Fremden erwartet. Ein Mann, der die Gefahr zu lieben schien, der durchs Land wanderte auf der Suche nach Abenteuer. Ein Mann, der eine gefährliche Waffe bei sich trug.
Sie hatte geglaubt, dass die Umstände ihn hart gemacht hätten, hatte geglaubt, dass er unfähig zu Tränen war. Sie hätte nie vermutet, dass er in der Lage wäre, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen.
Aber jetzt saß er hier und schluchzte wie ein kleiner Junge, der seine Eltern verloren hatte.
Sie litt so sehr mit ihm, dass sich ihr Herz vor Schmerz zusammenzog. Wren trat zurück und zog die Tür leise wieder zu. Instinktiv wusste sie, dass Keegan sich zutiefst gedemütigt fühlen würde, wenn er sie jetzt entdeckte.
Wren ging leise zum Nähzimmer hinüber und setzte sich dort auf einen Stuhl.
Es gab einen Menschen, der noch mehr litt als sie. Jemand, der dringend Trost und Mitgefühl brauchte. Dieser Mann schien so verzweifelt, dass es ihr schier das Herz brach.
Sie musste etwas unternehmen. Sie konnte nicht tatenlos mit ansahen, wie er litt. Sie musste diese Weihnachten zu etwas ganz Besonderem machen, um ihm zu zeigen, dass noch nicht alles verloren war. Sie wollte ihm beweisen, dass, was immer auch passiert war, das Leben weiterging.
Es wurde höchste Zeit, dass sie aufhörte, in Selbstmitleid zu versinken und stattdessen an ihre Mitmenschen dachte.
Vielleicht hatte der Himmel ihr das sagen wollen, als er Keegan an ihre Haustür klopfen ließ und dann einen Sturm, Eisregen und jetzt Schnee schickte, damit er noch eine Weile bei ihr blieb.
Wren hob entschlossen den Kopf und begann, Pläne zu machen.
6. KAPITEL
“Sie brauchen sich gar nicht so viel Mühe zu machen”, brummte Keegan. “Weihnachten ist mir völlig egal.”
“Aber mir nicht.”
“Sie würden nicht so viel Aufwand machen, wenn Sie allein wären”, erklärte er.
“Nein”, gab Wren fröhlich zu, “aber dieses Jahr bin ich nicht allein, ich habe Gesellschaft.”
Keegan verschränkte die Arme vor der Brust und schaute kritisch zu, wie sie beschwingt im Wohnzimmer herumlief. Was war nur mit dieser Frau passiert? Sie schien auf einmal vom Weihnachtsfieber erfasst worden zu sein. Die ruhige, schüchterne Person, die er vor zwei Tagen kennen gelernt hatte, war verschwunden. Jetzt sah sie mit ihren roten
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