Das Wunder des Pfirsichgartens: Roman (German Edition)
jemandem wie Rachel. Der Winter ging auch Willa schrecklich auf die Nerven, vielleicht sogar mehr, weil sie wusste, dass sie nicht einfach wegziehen konnte. Das war der große Unterschied zwischen Willa und Rachel, zwischen Willa und all den anderen Zugezogenen. Hier lebte ihre Großmutter. Hier stand das Haus ihres Vaters. Hier war ihre Vergangenheit. Manchmal lehnte sie sich an die Theke, legte das Kinn in die Hand, starrte auf den Schnee und verzehrte sich nach etwas anderem. Etwas, das ihr Leben verändern würde. Unweigerlich meldete sich dann dieses nervöse Ziehen in ihrem Magen. Sie kannte das Gefühl aus ihrer Jugend, wenn die Wochen verstrichen und sie sich fest vorgenommen hatte, nie wieder eine Dummheit zu begehen. Das Gefühl wurde dann stärker und stärker, bis sie schließlich ein Seil aus Gymnastikanzügen knüpfte, das sie um zwei Uhr nachts aus dem Fenster des Tanzturms in der Schule hängte. Und alle, die am Morgen in die Schule kamen, dachten dann, dass eine Gruppe von Tänzerinnen dort oben eingeschlossen worden war und sie ihre Klamotten zusammenbinden und nackt aus dem Turm hatten herausklettern müssen.
Und aus diesem Grund wollte sie sich von Colin Osgood fernhalten. Niemand, absolut niemand hatte ihr je gesagt, dass sie ihn inspiriert hatte, dass er sie wegen ihrer Taten bewunderte. Es stand im Widerspruch zu allem, was ihr je erzählt worden war, was jemand, der sich mühsam durch die Highschool gequält hatte, gern glauben wollte: dass man sich wirklich ändern konnte, wenn man sich nur richtig ins Zeug legte. Aber nicht zum ersten Mal ertappte sie sich bei dem Gedanken: Was wäre, wenn die Person, die sie damals gewesen war, ihrer wahren Natur entsprach?
Stimmen aus dem Laden drangen an ihr Ohr. Das Timbre von Colins Bass, Rachels Lachen.
Auf einmal drehte sich der Türknauf zum Lager. Da sie mit dem Rücken an der Tür lehnte, stemmte sie sich automatisch dagegen. Aber er war natürlich stärker, sodass sie aufgab und zur Seite trat. Die Tür flog auf.
Colin erwischte sie, bevor sie an die Wand knallte. Er musterte Willa interessiert. Sie hatte nach dem anstrengenden Tag ihr Haar mit einem Stirnband aus dem Gesicht gehalten. Zur Vervollkommnung ihres wunderbaren Outfits trug sie heute Jeans, Plateausneaker und ein T-Shirt mit der Aufschrift: Ab in die Natur! Au Naturel Sporting Goods and Café, Walls of Water, North Carolina . Natürlich hatte das Shirt einen Kaffeefleck. »Warum hast du dich gegen die Tür gestemmt?«, fragte er.
»Ich hab dir doch gesagt, dass du mich nicht sehen würdest, wenn ich dich als Erste sehe.«
»Sollte das wirklich heißen, dass du vorhattest, dich vor mir zu verstecken?«
»Keiner meiner besseren Momente«, gab sie zu.
Er trug eine Khakihose und Mokassins, und im Ausschnitt seines hellblauen, kurzärmeligen Hemds steckte eine Pilotenbrille. Er wirkte extrem ordentlich und kontrolliert. Offenbar besaßen alle Osgoods die seltsame Gabe, in ihr das Gefühl hervorzurufen, sie habe sich nicht ganz im Griff.
»Was willst du, Colin?«
»Ich hätte gern, dass du mit mir zum Madam fährst«, antwortete er. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
Na gut, damit war ihre Aufmerksamkeit geweckt, womit er wohl gerechnet hatte. »Ich kann nicht. Ich arbeite«, erwiderte sie. Zum Beweis hob sie eine Schachtel mit Plastikbechern hoch und drängte sich an ihm vorbei in den Laden.
»Es wird nicht lange dauern«, sagte er und folgte ihr. »Wir haben heute etwas auf dem Grundstück gefunden. Vielleicht kannst du uns helfen herauszufinden, wem es gehört hat.«
»Das bezweifle ich. Ich weiß nichts über dieses Haus«, entgegnete sie. Und das stimmte leider. Ihre Großmutter hatte nie über ihr Leben dort gesprochen. Sie reichte Rachel die Becher, die ihr einen kindisch-anzüglichen Blick in der Art von »Hey, du redest mit ’nem heißen Typen« zuwarf. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass Colin ihr näher war, als sie erwartet hatte. »Was habt ihr denn gefunden?«
Er beugte sich zu ihr hinunter und grinste. »Komm mit, dann wirst du schon sehen«, sagte er verführerisch. Er roch betörend, nicht nach Sandelholz und Patschuli, wie auf der National Street viele rochen. Colins Duft war elegant und frisch, fremd und gleichzeitig seltsam vertraut. Irgendwas Grünes, Teures.
Sie wich einen Schritt zurück. »Es geht nicht.«
»Bist du nicht wenigstens ein bisschen neugierig?«
»O doch, das ist sie«, bemerkte Rachel.
Willa warf ihr einen bösen Blick
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