Das Wunder des Pfirsichgartens: Roman (German Edition)
beim Aussteigen. Dass er ständig ihren Lebensstil hinterfragte, hatte sie so beschäftigt, dass ihr nie in den Sinn gekommen war, warum er das wohl tat. Bis jetzt. Es war eine richtige Offenbarung, wie wenig das mit ihr zu tun hatte.
Colin machte sich auf den Weg, und sie folgte ihm zögernd in den dichten Wald. Er schien der geborene Tourenführer zu sein. Er wies sie auf interessante Blumen hin und zeigte ihr den Unterschied zwischen dem neuen Baumwuchs, seit hier keine Bäume mehr gefällt wurden, und den alten Bäumen, die erhalten geblieben waren. Sie gab sich keine Mühe, so zu tun, als wäre sie fasziniert. Sie hielt vor allem nach Schlangen Ausschau. Willa war kein Naturkind, auch wenn er sie gern so gehabt hätte. Warum, konnte sie sich nicht erklären. Er wollte gern, dass sie alles Mögliche war. Er hatte ihr gesagt, dass sie ihn dazu inspiriert hatte, den Ort zu verlassen und seinem eigenen Weg zu folgen. Allmählich erkannte sie, dass ihr Leben hier, die Tatsache, dass sie zurückgekehrt und geblieben war, für ihn bedeutete, dass er sein Leben hinterfragen musste. Er glaubte nicht, dass er hierhergehörte, doch allem Anschein nach brachte sie ihn dazu, sich ein paar unbequemen Tatsachen zu stellen. Die Menschen verändern sich. Man kann auch dort wachsen, wo man gepflanzt wurde.
Und das schien Colin rein gar nicht zu gefallen.
Bei all diesen Überlegungen wurde ihr bewusst, dass ihr der Ort mittlerweile richtig ans Herz gewachsen war. Das freute sie nicht besonders. Sie hätte nie gedacht, dass es je so weit käme.
Und wo passte die Verführung ins Bild? War sie nur ein Mittel zum Zweck? Ein Teil seines Versuchs, sie so zu beeinflussen, dass sie sich änderte und seinen Erwartungen entsprach? Dann könnte er sich wieder beruhigt seiner Überzeugung hingeben, dass er in seinem Leben die richtigen Entscheidungen getroffen hatte.
Doch eigentlich glaubte sie das nicht, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war.
Sie machten eine kleine Pause, um einen Schluck Wasser zu trinken und sich mit ein paar Snacks aus Colins Rucksack zu stärken. Erst jetzt fiel Willa auf, wie erschöpft sie war. Sie genoss es, sich ein bisschen ausruhen zu können und ein paar Reiter dabei zu beobachten, wie sie den Fluss auf dem einzigen Reitweg im Park überquerten. Bald jedoch rief Colin wieder zum Aufbruch.
Nach einer Weile erreichten sie die Stelle, an der der Wasserfall in die Tiefe stürzte. Es war ein großartiger Anblick. Bis zum Rand des Abgrunds strömte der Fluss ganz ruhig dahin und war erstaunlich seicht, doch dann ergoss sich das Wasser mit lautem Tosen über den Felsrand gut dreißig Meter hinab in eine Gumpe mit großen, flachen Steinen.
Der berühmteste Wasserfall der Gegend war nach einem gewissen Jonathan Tinpenny benannt worden, einem stattlichen, aber auch etwas überheblichen Mann. Angeblich war Mr Tinpenny vor fast zweihundert Jahren aus Charleston in South Carolina auf der Suche nach den Wasserfällen in dieser Gegend hierhergeritten; denn dem Wasser sollten Heilkräfte innewohnen, und es wurde von vielen Wunderheilungen berichtet. Mr Tinpenny war damals Mitte zwanzig, doch die Männer in seiner Familie wurden schon in jungen Jahren von der Gicht geplagt. Trotz seiner Krankheit unternahm Mr Tinpenny die anstrengende Reise über die grünen Berge allein. Er war der jüngste, größte und zäheste seiner Brüder und war deshalb ziemlich stolz auf seine Kraft und seinen Mut. Doch er hatte nicht damit gerechnet, dass die Pfade in den hohen, kühlen Bergen im Westen North Carolinas so unwegsam waren. Und ebenso wenig hatte er damit gerechnet, in einem Land des Nebels zu landen. Er führte sein Pferd durch Morast, der ihm bis zu den Hüften reichte, und füllte mehrere Flaschen mit dem Nebel, um ihn nach Hause mitzunehmen und allen zu zeigen, wie dick er war. Die Reise verlangte ihm einiges ab. Als er endlich auf den Wasserfall stieß, war er zermürbt von Schmerzen und zu Tode erschöpft. Er verlor den Halt und stürzte in die Tiefe. Wie durch ein Wunder überlebte er und wurde nur Stunden später von Jägern gefunden. Sie verfrachteten ihn in einen Zug, der ihn nach Hause brachte. Er bekam sogar ein mit allem Komfort ausgestattetes Abteil in der ersten Klasse. Daraufhin behauptete er, dass das Wasser tatsächlich heilend sei; denn die Reise dorthin hatte ihn ungeheuer viel Mühe und Kraft gekostet, die Heimreise hingegen war das reinste Kinderspiel. Er erreichte ein stattliches Alter, und bei seiner
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