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Das Wunder von Grauenfels (German Edition)

Das Wunder von Grauenfels (German Edition)

Titel: Das Wunder von Grauenfels (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktoria Benjamin
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nichts falsch zu machen. Marco musste sich zu einer Aussage unter eigenem Namen bereit erklären. Wenn der Junge einen Rückzieher machte, konnte er einpacken. Marco dachte allerdings gar nicht daran, die endlich erlangte Aufmerksamkeit wieder abzugeben.
    »Von der Lupe? Woah! Werden Sie über das hier schreiben?« Beeindruckt starrte Marco auf die Visitenkarte.
    »Ich würde diesen Schwindel gern aufdecken«, meinte Ruben. »Und du könntest mir dabei helfen. Willst du?«
    Eine halbe Stunde später saßen Ruben und Marco in dem kleinen, penibel aufgeräumten Wohnzimmer der Familie Schalk. Marcos Eltern verfügten über eine Etagenwohnung in einem der DDR-typischen Plattenbauten, die auch Grauenfels nicht verschont hatten. Fast ehrfürchtig ob des hohen Besuches von der Zeitung hatte Mutter Schalk Ruben hereingebeten und kredenzte ihm Kaffee und Kekse, während Marco das Video heraussuchte.
    »Vielleicht schreiben Sie mal was über unseren Jungen! Wissen Sie, Schauspieler ist ja eher ein seltsamer Beruf. Aber so viele Chancen haben die jungen Leute hier auch in den normalen Jobs nicht, und Marco ist wirklich begabt. Das sagen alle. Wie er diesen … wie hieß er noch … Romeo gespielt hat. Ich hab so geweint.«
    Ruben ließ den Sermon der stolzen Mama gelassen über sich ergehen. Die ersten Szenen des Videos waren auch nicht gerade erhebend. Eine Schüleraufführung, nicht mehr, und Marco als Romeo war grottenschlecht. Der Junge überspieltedie Rolle fürchterlich, fuchtelte wild mit dem Säbel in der Gegend herum und ersetzte Ausdruck durch Lautstärke. Ruben hatte das Gefühl, gleich Kopfschmerzen zu bekommen, und bedauerte fast, hergekommen zu sein. Wenn Julia auch so jämmerlich agierte, verschwendete er hier seine Zeit. Aber dann betrat Claudia die improvisierte Bühne, und Ruben blieb geradezu der Keks im Halse stecken. Das Mädchen steckte in einem schlecht zusammengesteckten Hängerkostüm und trug eine entsetzliche Perücke, aber all das vergaß man, als es zu spielen begann. Ruben hatte während seiner Volontärszeit eine kurze und unrühmliche Periode als Theaterkritiker hinter sich gebracht und Romeo und Julia seitdem mehrfach gesehen. Er hatte Aufführungen verfolgt, in denen eine Dreißigjährige die junge Julia verkörperte, weil der Regisseur die Meinung vertrat, nur eine erfahrene Schauspielerin könnte die tiefen Gefühle des Mädchens angemessen darstellen. Andere Inszenierungen betrauten zwanzigjährige Newcomerinnen mit der Rolle, die dann oft kläglich versagten. Allerdings war ihm noch nie eine so entzückend unschuldige, herzzerreißend süße Julia begegnet wie Claudia Martens. Claudia war in etwa dem Alter, in dem auch Shakespeares Julia gewesen sein musste, als sie sich in Romeo verliebte – vielleicht etwas jünger. Claudia konnte kaum älter als zwölf gewesen sein, als sie die Rolle spielte. Aber sie verkörperte das naive Kind, das in einem Gefühlsstrudel zu schnell zur Frau reifte und dabei verzweifelt versuchte, allein durch Liebe Grenzen zu sprengen, mit einer für ihr Alter ungewöhnlichen Reife. Ruben hatte das Gefühl, einer selten werkgetreuen Interpretation der Rolle beizuwohnen. Auch die erste Julia musste von einem zwölf- oder dreizehnjährigen Kind gespielt worden sein. Zu Shakespeares Zeiten wurden Frauenrollen mit Knaben vor dem Stimmbruch besetzt, und die Kompanien waren ständig auf der Suche nach außergewöhnlichen Begabungen. Von Claudia wäre der Dichter begeistert gewesen.Romeo dagegen blieb ein Flop, ebenso wie alle anderen Darsteller. Nur diese Julia rettete die Aufführung – Ruben lächelte über ihren entrückten Ausdruck in der Balkonszene. Genau so wie Julia hier Romeo nachblickte, schaute Claudia im Steinbruch der angeblichen Erscheinung hinterher. Beides eine schauspielerische Meisterleistung.
    Marco schaltete nach der Balkonszene ab.
    »Sehen Sie’s? Wir hätten das locker zusammen durchziehen können! Aber Claudia musste sich ja wieder mal vordrängen …«
    Ruben nickte abwesend. »Warst du zufällig auch dabei, als sie diese Massenerscheinung inszeniert haben?«, wechselte er das Thema. »Ich würde gern beweisen, wie sie das getürkt haben.«
    Marco schüttelte den Kopf. »Nö. Aber ich hab die Schau mit dem Köter mitgekriegt. Das war Rex, jede Wette! Den haben sie natürlich rausgeputzt wie ein Monster, Schaum vorm Maul und Blut im Fell und überhaupt mehr Haare und struppiger. Aber wenn Sie die Bilder mal mit dem Hund vergleichen, dann sehen

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