Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
informieren. Ob sie wohl eher Erleichterung oder Bedauern verspüren würde? Ruben hoffte auf Letzteres. Er hätte seine Beziehung zu der ebenso hübschen wie klugen Texterin gern noch vertieft.
Die Menge der Pilger war heute größer als sonst, offensichtlich hatten sich etliche Murphy-Family-Fans ohne spirituelle Ambitionen angeschlossen. Marvin Murphy, dieser kleine, schmierige Typ, dessen Affäre mit seinem Tontechniker in Journalistenkreisen ein offenes Geheimnis war, flirtete penetrant mit Sophie Becker. Die schien akut verliebt zu sein, Ruben empfand einen Anflug von Mitleid mit dem schönen dunkelhaarigen Mädchen. Hoffentlich war es nicht gar so sensibel und zerbrechlich, wie es aussah.
Die Gesänge waren heute erträglicher als beim letzten Mal – zumindest wenn man auf die manchmal etwas schrägen Einfachstrhythmen der Murphy Family stand. Die Erscheinung selbst verlief praktisch genauso wie beim letzten Mal – vielleicht wirkte die kleine Sophie noch etwas überirdisch entrückter –, aber das bewirkte Verliebtheit ja auch ohne himmlische Nachhilfe.
Ruben ließ die Blicke von den beiden Mädchen zu ihrem aufmerksamen Publikum schweifen. Die meisten Pilger zeigten den üblichen Ausdruck von Benommenheit, einige lächeltenglücklich, andere waren offensichtlich wirklich in innige Gebete versunken. Ruben fragte sich mit leichtem Grinsen, wie viele von ihnen sich wohl eine neue Nase wünschten, rief sich dann aber selbst zur Ordnung. Diese Menschen mochten ernsthafte Probleme haben. Es war ethisch unvertretbar, ihnen Hoffnung auf einfache, wundersame Lösungen zu machen. Was hier ablief, war Betrug, nicht mehr und nicht weniger.
Ruben blickte von den beseligten Gesichtern der Gläubigen zu den kaum weniger verzückten der Murphy-Fans. Mit glücklich-schwärmerischem Ausdruck beobachteten sie die bunt bekleideten Popstars, die wie Lumpenpuppen aufgereiht um den Erscheinungsplatz knieten. Die Blicke der Mädchen hingen an Marvins Gebete flüsternden Lippen. Der Typ sah aus, als konzentriere er sich wirklich auf seine Andacht. Na ja, ein guter Schauspieler war er immer gewesen.
Aber dann fiel Ruben ein anderer Junge ins Auge – ein Junge, der nicht im Zentrum, sondern am Rande des Geschehens stand, ein aufmerksamer Beobachter wie Ruben selbst, aber offensichtlich nicht objektiv. Der schlanke, braunhaarige Knabe bemühte sich um einen spöttischen Ausdruck. Tatsächlich spiegelten sich in seinem Gesicht jedoch Ärger, Wut, beinahe Hass. Ruben schlenderte zu ihm hinüber. Als Claudia und Sophie ihre Vorstellung beendeten, sprach er ihn an.
»Du wirkst nicht sehr beeindruckt …«
Der Junge sah überrascht auf und zeigte ein schiefes Lächeln. »Von der gequirlten Scheiße hier? Ich bin doch nicht blöd.«
»Du könntest wenigstens die Darstellung bewundern«, meinte Ruben leichthin. »Die Mädchen liefern doch wohl eine gute Show.«
Der Junge zuckte die Achseln. »Ich hab Claudia schon besser gesehen.«
»Aha, also ein Fan von ihr. Du schaust dir jede dieser Erscheinungenan?« Rubens Reporterherz begann höher zu schlagen. Womöglich bot ihm dieser Junge den Ansatzpunkt, nach dem er schon so lange suchte.
»Quatsch«, meinte der Junge mürrisch. »Nur so zwei oder drei hab ich gesehen. Läuft doch immer wieder gleich ab, höchstens mal mit ein paar special effects, aber die sind im Kino auch besser.«
»Warum bist du dann überhaupt da? Wegen der Murphy Family?«, erkundigte sich Ruben.
»Ich weiß auch nicht. Wollte den Auftrieb wohl nicht verpassen. Dabei ärgere ich mich nur … Es ist einfach nicht fair!« Der betont ablehnende Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen wich zunehmend wilder Wut und Enttäuschung. »Ich war genauso lange dabei wie sie – aber jetzt sitzt sie dick drin und Küsschen hier und Küsschen da mit der Murphy Family, und ich – verdammt, sie haben mich nicht mal gefragt!«
Ruben verstand nicht ganz. »Du – du hättest hier gern mitgemischt?«, fragte er vorsichtig.
Der Junge nickte mit verkniffenem Ausdruck. »Klar! Sie hätten gut noch einen Jungen einbauen können. Ich bin nicht schlechter als Claudia. Ich war ihr Romeo …«
»Du warst ihr Freund?«, erkundigte sich Ruben ungläubig.
Der Junge schüttelte heftig den Kopf. »Ich war ihr Romeo!«, sagte er heftig. »Shakespeare, falls Sie davon schon mal gehört haben. Claudia hat die Julia gespielt.«
»Claudia hat … Wo denn? In der Schule? Aber in eurer Klassenstufe ist Shakespeare doch noch gar nicht dran!«
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