Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
Das sind ganz plastische Vorstellungen. Sie kommen ungerufen und sollen unglaublich realistisch sein. Meint jedenfalls meine Mutter, die hatte auch mal welche …«
»Ja?«, fragten alle drei Zuhörerinnen verblüfft.
Sophie kaute an ihrem Zopf. »Ihre Mutter hat die Madonna gesehen?«
Berit lachte. »Die Madonna nicht. Aber Engel, die an einer Leiter vom Himmel herabstiegen. Ehrlich, das ist kein Witz! Sie hat es mir vor ein paar Jahren mal erzählt, als ich im Studium was über Eidetik las. Mir ist das eben erst wieder eingefallen. Meine Mutter war damals so zehn Jahre alt. Kommunionsalter, die Zeit, in der alle braven katholischen Mädchen Nonne werden wollen. Die Fantasie rankt stark um die Glaubensinhalte, und daran orientieren sich dann auch die eidetischen Bilder.«
»Und dann?«, erkundigte sich Claudia gespannt. »Hat sie es jemandem erzählt?«
»Den Teufel hat sie getan. Sie kannte schließlich meine Großmutter. Die war ziemlich realistisch und hätte ihr die Engel vermutlich mit dem Kochlöffel ausgetrieben.«
Die anderen lachten.
»Aber den Seherkindern hat man’s geglaubt«, meinte Sophie.
»Klar. Die Eltern waren ja genauso naiv und strenggläubig.Und alle anderen in den Orten auch. Die Menschen fingen an, die Kinder zu bewundern, und die wuchsen in ihre Rollen rein. Wird euch auch so gehen, passt auf. In ein paar Monaten werden wir euch sehr ernsthaft darauf hinweisen müssen, dass man euch in der Schauspiel- und Ballettschule nicht mit Rosenkränzen empfangen wird.«
»Noch was zu den Kindern«, meinte Sophie, wobei sie ein bisschen rot wurde. »Die Frage ist mir jetzt etwas peinlich, aber … Fast alle diese Kinder sind ganz kurz nach den Erscheinungen gestorben. Und alle anderen sind ins Kloster gegangen. Sie dürfen uns das nicht übel nehmen. Aber es ist nicht etwa geplant, uns hinterher um die Ecke zu bringen?«
Gina und Berit lachten. »Nein, ganz sicher nicht. Raus aus Grauenfels, das ja. Da könnt ihr danach nicht weiterleben. Aber ins Kloster oder um die Ecke … Nein! Das nun doch nicht!«
»Da müsst ihr auch wieder die Zeit im Auge behalten«, erklärte Berit. Sie hatte ihre Hausaufgaben im Internet wirklich gründlich erledigt. »Schaut mal, Lourdes war 1858 und Fátima 1917. Beides abgelegene Orte mit schlechter medizinischer Versorgung und hoher Kindersterblichkeit. Die Seherinnen waren meist schon vor der Marienerscheinung krank. Möglicherweise hat das auch die ganze Sache mitverursacht. Diese Bernadette hatte zum Beispiel Asthma. Atemnot erzeugt nachweislich Halluzinationen. Und ich glaube, die zwei Fátima-Kinder sind ebenfalls an Lungenleiden gestorben.«
»Die Kinder von Medjugorge leben jedenfalls noch«, warf Gina ein. »Und sind körperlich wohl auch ganz gesund. Die Seherinnen von Marpingen ebenfalls – wenn man vom Übergewicht mal absieht. Aber das sind Erwachsene.«
Claudia war immer noch bei den Kindern von Fátima. »Und was ist mit der Leiderei? Diese Kinder litten doch angeblich so fürchterlich. Sollte irgendwas mit der Befreiung von Sünden zu tun haben. Es klang jedenfalls so, als gehörte esdazu. Die Beschreibungen fand ich ganz schrecklich. Das hier zum Beispiel …« Claudia blätterte in der Akte. »Ein Jahr nach den Erscheinungen, im Oktober 1918, erkrankte Jacinta an Lungenentzündung; eine Zeit, nach der sich die feinfühlige, zarte Jacinta gesehnt hatte. Endlich durfte sie leiden, viel leiden! Eines Tages fragte Lucia die leidende kleine Jacinta: ›Geht es dir besser?‹ – ›Du weißt, dass es mir nicht besser gehen wird! Ich habe große Schmerzen in der Brust. Aber ich sage nichts. Ich leide für die Bekehrung der Sünder‹, sagte Jacinta.« Claudia zitierte mit tragender Stimme.
»Das Kind war seelisch krank …«, hub Berit zu einem weiteren, hochpsychologischen Vortrag an.
Aber Gina unterbrach sie, bevor sie richtig warm wurde. »Also, eins wollen wir mal klarstellen«, meinte Gina bestimmt und sah auf die Uhr. »Leiden soll hier keiner. Klar, ihr werdet Stress haben, und es wird Anfeindungen geben. Aber das soll nicht ins Tragische ausarten. Im Gegenteil. Wenn alles klappt, werden alle ihren Vorteil davon haben: Ihr geht nach New York oder Paris, Grauenfels hat seine Touristen, BeGin einen vollen Terminkalender und die Kirche einen neuen Wallfahrtsort. Obendrein werden noch ein paar Leute von ihren mehr oder weniger eingebildeten Krankheiten befreit. Alles bestens. Ihr müsst nur noch ja sagen. Dann sollten wir nämlich langsam
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