Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
und regnerisch, als sich die Pilger in aller Herrgottsfrühe auf dem Busparkplatz des Reisebüros trafen. Zu Rubens Überraschung waren es viele, der große Reisebus durfte annähernd ausgebucht sein. Das Durchschnittsalter der Reisenden lag dabei sicher jenseits der sechzig. Einige Ehepaare belebten die Szene, ansonsten reisten zahlreiche Damen ohne männliche Begleitung. Ruben als einziger allein reisender Mann wurde interessiert bis misstrauisch beäugt. An jüngeren Reisenden gab es zwei Nonnen, deren genaues Alter jedoch nicht zu bestimmen war, und zwei Frauen, die aufgeregt tuschelten. Ruben nahm sich vor, die beiden auf der Reise ausgiebig zu befragen, und suchte sich einen Sitzplatz in ihrer Nähe. Bei seiner Sitznachbarin, einer älteren Dame, brauchte es jedenfalls keine komplizierten Interviewtechniken,um das Eis zu brechen. Noch bevor sie die Autobahn erreichten, hatte sie ihm ihre halbe Lebensgeschichte erzählt und war dann zur Schilderung ihrer diversen Erlebnisse auf den Spuren der Heiligen Muttergottes übergegangen.
»Ich war schon überall, wissen Sie! In Lourdes und Fátima, Medjugorge und letztlich in Marpingen, natürlich. Und das war auch sehr schön, ich weiß gar nicht, warum der Bischof das so gar nicht anerkennen will. Die drei Seherinnen … sehr, sehr sympathisch, auch wenn das mit den Kindern … es ist schon in gewisser Weise erhebender, wenn sich die Jungfrau diesen unschuldigen Geschöpfen offenbart, finden Sie nicht?«
»Und warum unternehmen Sie diese Reisen?«, erkundigte sich Ruben. »Entschuldigen Sie, wenn ich indiskret bin, aber Sie sehen sehr gesund aus. Also nehme ich an, Sie suchen nicht in erster Linie Heilung von einer Krankheit …«
»Ach Gott, was heißt gesund …« Die Frau seufzte. »Man hat schon hier und da seine Zipperlein, ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste. Aber ich will nicht klagen. Was man auf diesen Pilgerreisen so an Leid zu sehen kriegt. In Lourdes zum Beispiel habe ich das Zimmer mit einer Dame geteilt, die …«
Nach einer Stunde angeregter Unterhaltung mit der erfahrenen Marientouristin hatte Ruben den Eindruck gewonnen, sie beziehe ihren Lustgewinn hauptsächlich aus der Beobachtung der Krankheitsgeschichten anderer Leute. Echten Heilungen hatte sie dabei leider noch nicht beigewohnt.
»Aber besser wird es fast immer! Sogar mein Rheuma! Nach zwei Wochen in Lourdes war es wie weggeblasen.«
Ruben bezweifelte das nicht. Nach einem Sommer in Hamburg dürfte sich ein zweiwöchiger Aufenthalt im Mittelmeerklima auch auf atheistische Rheumatiker positiv auswirken.
Schließlich gönnte sich die rührige Pilgerin dann endlich ein Nickerchen, und Ruben hatte Zeit, sich den jungen Frauen auf der anderen Seite des Ganges zu widmen. Auch die zwei wirkten nicht krank. Besonders die eine nicht, ein Dickerchenvon rosigem Aussehen mit blitzenden, in Fettgebirgen versinkenden Schweinsäuglein schaute eher lüstern zu Ruben herüber. Bereitwillig gab sie Auskunft, dass dies ihre erste ›Marienreise‹ sei.
»Meine Freundin hier, die war auch in Marpingen. Aber ich versuch’s jetzt zum ersten Mal.«
»Was versuchen Sie denn?«, erkundigte sich Ruben. »Ich meine, haben Sie bestimmte Wünsche, äh, Bitten, die Sie an die Jungfrau richten wollen?«
Die beiden Frauen kicherten.
»Sieht fast aus, als ob du schon auf dem besten Wege bist«, neckte die Freundin, eine hübsche Brünette, deren Nase allerdings gut Vorlage für ein Pinocchio-Bilderbuch geben konnte, das Dickerchen. »Gib’s schon zu, na los, vielleicht geht es ihm ja genauso.«
»Nein, sag du zuerst!«, forderte Miss Piggy auf.
»Nein, nein, das ist zu peinlich … Mach du!«
»Also ich …« Miss Piggy prustete los, rettete sich dann aber in einen verführerischen Augenaufschlag. »Also ich suche einen Mann.«
»W …«, Ruben schluckte. »Aber warum fahren Sie dazu zu einer Marienerscheinung? Wäre nicht eine einfache Partnervermittlung –?«
»Ach, das habe ich alles schon durch.« Miss Piggy seufzte. »Nur so richtig hat sich da nichts ergeben. Aber dann hatte ich ein ganz seltsames Erlebnis. Wirklich. Ich war im Zug von Mailand nach München, und im selben Abteil saß so ein Mönch. Oder Pfarrer, oder was weiß ich. Aus Rumänien. Es war sehr lustig, weil … es war ein Liegewagen, und er war zuerst ganz entsetzt, als er ihn mit Frauen teilen sollte. Aber dann haben wir uns doch sehr nett unterhalten, und zum Schluss hat er gesagt, ich müsste zur Muttergottes beten. Dann kriegte ich
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