Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
Engel« mit Geschenken und Briefen von Anhängern überschwemmt.
Nach Auskunft der Kinder ereilte die Erscheinung sie erstmals bei einer Schnitzeljagd – passenderweise organisiert von der evangelischen Jugendseelsorge. Dabei offenbarte die »Dame« nichts wesentlich Neues – die Schilderungen der drei Seherkinder glichen denen ihrer Vorgänger fast aufs Haar. Das ist umso erstaunlicher, da keines der drei Kinder katholisch erzogen wurde – Claudias Eltern gehören der evangelischen Konfession an, Sophie erhielt überhaupt keine religiöse Unterweisung.
Dies jedoch sei unerheblich. »Informationen über frühere Marienerscheinungen sind jedermann zugänglich«, urteilt Weihbischof Ferdinand Hinz. »Unzweifelhaft weisen diese Mädchen irgendwelche psychischen Störungen auf, die zu Halluzinationen führen – oder sie treiben gar ihren Spott mit unbedarften Gläubigen. Bis jetzt ist an eine Anerkennung oder auch nur Prüfung der Phänomene in keiner Weise gedacht.«
Sollten sich die Ereignisse in Grauenfels allerdings weiterhin derart überschlagen wie in den letzten Wochen, wird der Kirchenmann um eine nähere Beschäftigung damit nicht herumkommen. Schon bei der zweiten Erscheinung – die »Dame« stellt sich pünktlich an jedem zweiten Wochenende ein, um zum Beten und In-sich-gehen aufzufordern – kam es angeblich zu einer ersten Wunderheilung. Bei der dritten legten die Kinder eine Quelle frei, aus der es inzwischen munter sprudelt. Um das angeblich wundertätige Wasser abzuzapfen, stehen Gläubige auch an Wochentagen bis zu zwei Stunden Schlange.
»Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass dieses Wasser irgendwelche heilenden Eigenschaften hat«, erklärt Doktor Klaus Dieter Hoffmann, ansässiger Arzt in Grauenfels.
»Die bisherigen Heilungen lassen sich durchweg auch auf natürliche Art erklären.«
Keine natürliche Erklärung liefert Hoffmann allerdings für die Erscheinungen der Mädchen. »Claudia und Sophie sind sicher nicht geistesgestört, sondern intelligente, sehr sympathische Kinder. Bernie ist ein wenig zurückgeblieben, neigte bislang allerdings ebenfalls nicht zu Absenzen. Epilepsie oder andere, den Geisteszustand beeinflussendeKrankheiten würde ich bislang nicht vermuten, ebenso wenig wie Drogensucht. Aber natürlich stehen ausführliche Untersuchungen noch aus.«
Nach Angaben aus dem Bürgermeisteramt, wo man dem plötzlichen Andrang auf Grauenfels eher verblüfft als negativ gegenübersteht, liegen für die entsprechenden Tests sowohl die Zustimmung der Mädchen als auch die Einwilligung ihrer Eltern vor.
»Vielleicht hört das dann endlich auf …«, hofft Claudias Vater.
Die nächste Erscheinung der »Dame« ist für den 20. April angekündigt.
»Also, erstens fahre ich erst am Zweiundzwanzigsten in die neuen Länder. Und zweitens ist am Zwanzigsten der Jahrestag von Hitlers Geburtstag«, brummte Ruben. »Da bin ich eher Glatzen und sonstigem braunen Pack auf der Spur und nicht himmlischen Jungfrauen.« Schon der Gedanke an Glatzen ließ ihn durch sein etwas schütteres braunes Haar fahren. Ruben war ständig besorgt, die letzten Fusseln könnten ihm auch noch ausgehen.
»War ja nur so ’ne Idee«, meinte Klein. »Behalt’s einfach im Auge, vielleicht legt Mylady den Termin ja noch um. Oder du wirfst einfach so einen Blick auf das Theater, wenn du in der Gegend bist. Ein Interview mit der Jungfrau dürfte sowieso nicht drin sein.«
Ruben Lennart hatte die Angelegenheit fast schon vergessen, als er am Abend von der Redaktion nach Hause schlenderte. Wie immer kam er an einem Reisebüro vorbei und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Plakate mit Palmenstränden und Last-Minute-Angeboten im Fenster.
Auch das Gespräch mit Klein fiel ihm wieder ein. Lourdes, Fátima und Medjugorge hörten sich angesichts des aktuellenNieselwetters gar nicht mal so schlecht an. Klang eigentlich alles so, als könnte man den Besuch mit einem Badeurlaub verbinden. Ruben überflog die Sonderangebote – und blieb unversehens an der Erwähnung des Ortes Grauenfels hängen.
»Tages-Busreise zur Marienerscheinung in Grauenfels, Thüringen, komfortabler Reisebus mit Toilette und Klimaanlage, Mittagessen im Dorfgasthof inklusive, Abfahrtszeit 6 Uhr morgens, DM 150,00.«
Rubens Interesse war geweckt. Mit wehmütigem Blick auf den Palmenstrand betrat er den Laden.
»Einmal Grauenfels hin und zurück«, orderte er. Mit dem braunen Pack sollte sich Hans Werther erst mal allein herumschlagen.
*
Es war kalt
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