Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
Hexen pragmatisch.
In der Redaktion des Grauenfelser Stadtanzeigers zeigte ihm eine gelangweilte Angestellte das Archiv. Leider lag es erst seit einem Jahr auf Diskette vor, ansonsten hatte man Stöße von Zeitungen gesammelt. Außerdem erschien das Blatt erst seit der Wende, die frühere Parteizeitung war nicht zugänglich. Nach kurzem Schmökern gab Ruben entnervt auf und machte sich auf die Suche nach einem Redakteur, der möglicherweise persönlich Auskunft geben konnte. Zu seiner Überraschung fand sich schnell ein Ansprechpartner. Rudolf Bergstätter, Chefredakteur des Käseblattes, kam persönlich vorbei. Er brannte darauf, den ›ersten Vertreter der Weltpresse kennen zu lernen, der sich je für das Archiv des Stadtanzeigers interessierte‹. Bergstätter war ein kleiner, untersetzter Mann, wusste sich allerdings wieselflink zu bewegen und war offenbar auch von rascher Auffassungsgabe.
»Die ›Hintergründe der Marienerscheinung‹? – Also wir haben die Dame nicht bestellt. Obwohl sie das Journalistenleben spannender macht, man kann’s nicht leugnen. Vorher sagten sich hier ja die Füchse Gute Nacht und eine Nachricht war deprimierender als die andere. Jetzt dagegen: alle fünf Minuten ein Autounfall, weil die meisten Pilger längst in einem Alter sind, wo keiner mehr den Sehtest bestünde. Ständig neue Restauranteröffnungen – und dann natürlich auch dieVerlautbarungen der Jungfrau. Vor allem diese Voraussagen! Alles Erfolgsmeldungen! Wir schalten nur das Fernsehen ein, nächste Horrormeldung, wieder ein Punkt für unsere Seherkinder!«
In Bergstätters kleinen braunen Augen stand ein ironisches Funkeln.
»Die Kinder sind immerhin beeindruckend«, meinte Ruben. »Ich habe sie Sonntag gesehen. Ist mit ein Grund dafür, dass ich hier bin. Mich interessiert ihr Umfeld. Warum haben die plötzlich Visionen? Waren sie vorher schon irgendwie auffällig?«
»Die Mädels? Nö, nicht dass ich wüsste. Die Sophie haben wir ein- oder zweimal erwähnt, wenn’s um Tanzaufführungen in Tatenbeck ging. Und die Claudia – na ja, wenn Sie ein paar Auftritte im Theaterclub des Jugendzentrums als Indiz dafür werten, dass die Erscheinungen getürkt sind … Sie hat gerade die Hauptrolle in so einem Musical gespielt. Soll sehr nett gewesen sein, unsere Kulturredakteurin war ganz begeistert. Die ist allerdings auch von den Produkten der örtlichen Töpferwerkstatt hin und weg …«
Ruben grinste.
»Und was ist mit den Familien?«, fragte er dann weiter. »Religiöser Hintergrund?«
Bergstätter zuckte mit den Schultern. »Katholisch sind sie jedenfalls beide nicht, so viel steht fest. Die Eltern der kleinen Ballettratte sind auch sonst unauffällig, der Vater ist Handwerker, hat sich selbstständig gemacht, nachdem er seinen Job verlor. Zurzeit verzeichnet er wohl ein Auftragsplus – aber ob er seine Kinder deshalb in Sachen Marienerscheinung beeinflusst? Höchst unwahrscheinlich.«
»Und diese Martens?«, erkundigte sich Ruben.
Bergstätter verzog die Lippen zu einem Ausdruck zwischen Belustigung und Verachtung. »Rektor Wendehals und Gattin? Tja, über die fände sich einiges im Archiv, wenn’s denn ein bisschen geordneter wäre. Und noch mehr in demdes Parteiblattes vor dem Mauerfall. Martens waren damals streng auf Linie – ich hätte auch gedacht, ihre Akten hätten ausgereicht, um sie für immer aus dem Lehramt rauszuhalten. Aber vermutlich haben sie damals schon mehr heiße Luft entwickelt, als sich wirklich die Finger verbrannt. Jedenfalls wurden sie ziemlich problemlos übernommen, obwohl sie zu DDR-Zeiten in jeden Hintern gekrochen sind, der vorn ein Parteiabzeichen trug. Und weil die Strategie so schön klappte, haben sie das dann gleich weiter betrieben – er ist jetzt, glaub ich, SPD-Mitglied, und sie engagiert sich bei Bündnis 90/Grüne. Daher auch die Rektorenstelle.« Bergstätter erteilte bereitwillig Auskunft. Es schien ihn zu freuen, dass ein Kollege aus Hamburg sich für sein Blatt und vor allem für seine Meinung interessierte. »Ich kann solche Leute ja nicht ausstehen – aber dass sie in eine getürkte Marienerscheinung verwickelt sein sollen, kann ich mir kaum vorstellen. Das ist nicht deren Stil. Dafür sind sie – mit Verlaub gesagt – auch zu dämlich, da gehört ja eine gewisse Kreativität zu. Und was hätten sie auch davon?«
»Wer hätte überhaupt was davon?«, überlegte Ruben. »Den Mädchen selbst kann das doch eigentlich auch nichts geben.«
»Ach, das würd ich
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