Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
damals für Bananen anstanden, statt für Wasser. Soll keiner sagen, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung stetig steigen …
Ach ja, und neulich hatten sie dann noch einen Fall von Levitation. Die beiden Mädchen schwebten angeblich in der Luft, als sie am Erscheinungsplatz beteten. Wieder zwanzig Zeugen, aber diesmal leider keine Fotos …«
»Ich fass es nicht! Die Leute glauben das doch nicht wirklich?« Ruben plante im Geist schon seine Reise nach Grauenfels. Er würde Berit einige sehr delikate Fragen stellen – mal sehen, wie sie sich aus der Affäre zog.
Klein zuckte die Achseln. »Offensichtlich doch. Und es ist auch nicht so, als würden sie nicht unterstützt. Die Bild -Zeitung hat da inzwischen ein Büro eingerichtet. Die halbe parapsychologische Fakultät von Freiburg tobt hinter den Mädchen her, weil sie ›Poltergeist-Phänomene‹ annehmen. Feministische Gruppen fühlen sich endlich mal vom Himmel ernst genommen und pilgern in Scharen nach Grauenfels. In dem Kaff tanzt der Bär! Wenn du hin willst, musst du wahrscheinlich vier Wochen im Voraus Zimmer bestellen. Dieses Tatenbeck, der Nachbarort, ist auch völlig ausgebucht. Madonna ist ein Tourismusmagnet, man kann’s nicht anders sagen.«
Ruben fuhr am nächsten Tag auf gut Glück nach Grauenfels. Es war ein sonniger Donnerstag im August, und die Straßen waren bis kurz vor Grauenfels frei. Allein vor der Einfahrt zum Parkplatz musste Ruben zehn Minuten warten. Immerhin verkürzten ihm ein paar junge Leute die Wartezeit, indem sie Informationsbroschüren verteilten. Das Ganze war sehr hübsch aufgemacht, informierte in knappem Text und Bild über die Erscheinung in Grauenfels und leitete dann geschickt über zum Thema »Jugendarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern«.
Aber auch hier vollzieht sich in Grauenfels zurzeit ein kleines Wunder. Wenn heute immer ein junger Mensch mit einer helfenden Hand und einem freundlichen Wort für die Pilger bereitsteht, dann vertritt er sicher die Selbsthilfegruppe »Wir tun was!«. Die Jugendlichen des Ortes verlieren sich nicht mehr in Perspektivlosigkeit, sondern engagieren sich gezielt zum Wohl der Pilger. Spenden werden gern angenommen und kommen ohne Verwaltungsaufwand der Schaffung von Ausbildungsplätzen in und um Grauenfels zugute. Seit der ersten Erscheinung der Regenbogenkönigin sind besonders im Bereich Dienstleistung und Gastronomie schon siebzig Jugendliche in Ausbildungs- oder Arbeitsverträge vermittelt worden.
Mindestens drei dieser jungen Menschen waren offensichtlich allein mit der Ordnung auf dem Parkplatz beschäftigt. Ein adretter junger Mann mit gefällig kurzem Haarschnitt teilte den Besuchern nach knapper, freundlicher Befragung Parkplätze in mehr oder weniger großer Entfernung zum Erscheinungsort zu.
»Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir ältere und behinderte Pilger bevorzugt einweisen«, beschied er Ruben und strich sechs Mark Parkgebühren »für unsere Arbeitsloseninitiative« ein.Die Leute zahlten nicht unwillig, war das Geschehen auf dem Parkplatz doch exzellent organisiert. Für Gehbehinderte standen Rollstühle bereit, junge Menschen halfen beim Tragen und Einladen von Wasserkanistern. Ein- und Ausfahrten waren ordentlich beschriftet und wurden zuverlässig freigehalten. Auch der Weg zum »Erscheinungsplatz«, der »Prozessionsweg« und der »Prozessionstreffpunkt« waren in großer, gut lesbarer Schrift ausgeschildert. Irgendjemand dachte hier wirklich auch an den letzten sehbehinderten Rentner. Allerdings hatte sich die Altersstruktur der Pilger seit Rubens letztem Besuch gründlich geändert. Man sah jetzt viel mehr jüngere Leute, vorwiegend Frauen, aber auch enthusiastisch wirkende Jugendliche, die Broschüren über eine »Kirche von unten« verteilten.
»Die Madonna von Grauenfels spricht aus, was wir alle denken!«, verkündete ein ungeschminktes Mädchen in langem Rock und Hippiehemd, das Ruben kurz interviewte. »Wir lassen uns nicht mehr den Mund verbieten!«
Ruben wanderte nicht gleich zum Erscheinungsort, sondern ließ sich in Richtung Bürgermeisteramt treiben. Die Straßen von Grauenfels waren nach diesen zwei Monaten nicht wiederzuerkennen. Inzwischen wimmelte es von kleinen Lokalen, Cafés und Restaurants, es gab Geschenk- und Blumenläden. Der Devotionalienhändler aus Paderborn hatte in einem der leer stehenden Ladenlokale eine Zweigstelle eröffnet.
»Demnächst machen wir noch ein Geschäft auf, näher am Steinbruch«, erklärte er
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