Das Wunder von Treviso
hat. Da ist der Schuppen von Ernesto schon ein besseres Versteck. Ich möchte nur zu gerne wissen, was er dort verschwinden lässt.»
«Ihr seid schon eine tolle Familie.» Luigi lachte leise. «Der Bruder ein Pfarrer und Kleptomane, die Schwester das heißeste Mädchen im ganzen Veneto!»
Maria grinste.
«Heiß ist mir augenblicklich eher weniger. Komm, wir verschwinden von hier, bevor der Wahnsinnige auftaucht. Ich mach uns noch einen Tee.» Und damit gingen die zwei ins Haus und setzten sich in die Küche, wo Maria Luigi bis fünf Uhr früh mit Anekdoten aus der bewegten Jugend ihres Bruders unterhielt.
Sie erzählte ihm, wie Antonio in jungen Jahren die Nonna stets mit gigantischen Blumensträußen zu versöhnen suchte, wenn er wieder einmal etwas angestellt hatte, was häufig vorkam. Und Nonna Cristina ließ sich immer wieder aufs Neue von Antonios floralen Bestechungsversuchen überzeugen, bis sie entdecken musste, dass Antonio die Blumen bei Ernesto Brasinis Vater heimlich aus dem Gewächshaus entwendete. Die Nonna hatte ihn daraufhin allerdings nicht bei Signor Brasini verpfiffen, sie hatte nicht einmal mit ihm geschimpft.
Eines Tages, als er mit einem Strauß Gladiolen vor ihr stand, nachdem er ihren Goldfisch an die Katze verfüttert hatte, nahm sie die Blumen freundlich lächelnd entgegen, griff zu ihrem Portemonnaie und drückte Antonio tausend Lire mit den Worten in die Hand: «Schätzchen, gib das Signor Brasini. Wir sind vielleicht Barbaren, weil wir Haustiere mit Haustieren füttern, aber unsere Gladiolen bezahlen wir.» Von da an sparte Maria vorsichtshalber einen Teil ihres Taschengeldesfür die Gelegenheiten auf, an denen Antonio Nonna Cristina mit Blumen besänftigen musste und sich dazu das Geld von seiner kleinen Schwester lieh, denn er selbst hatte zwar kein Händchen fürs Sparen, wohl aber für lateinische Grammatik, weshalb Maria sich folglich ihre fehlerlosen Hausaufgaben bei ihrem Bruder erkaufte. Somit war jedem gedient – mit Ausnahme des Goldfischs vielleicht.
Don Antonio sahen sie in dieser Nacht nicht mehr, denn der schlich sich heimlich an der Küchentür vorbei in sein Bett. Aber als Maria Luigi an der Haustür verabschiedete, dachte sie kurz, dass dies vielleicht der passende Zeitpunkt gewesen wäre, ihn zum Bleiben aufzufordern. Aus irgendeinem Grund zögerte sie jedoch, und der Augenblick verflog.
Feige bist du, Maria Braschi, einfach nur feige!, sagte sie zu sich selbst. Spring endlich und genieß es!
Sie nahm sich vor, die nächste Gelegenheit nicht mehr so einfach verstreichen zu lassen. Dann ging sie zurück in die Küche, goss sich noch eine letzte Tasse Tee ein und fiel glücklich ins Bett.
12
Am nächsten Tag war Maria klar, was ihr Bruder im Schuppen von Ernesto Brasini getan hatte, denn gegen acht Uhr früh wurde heftig gegen die Eingangstür desPfarrhauses getrommelt, während gleichzeitig das Telefon Sturm läutete. Die Madonna war fort. Weg. Gestohlen. Was für ein Skandal!
Der ganze Ort geriet binnen kürzester Zeit in Aufruhr, denn die Nachricht hatte sich schnell verbreitet. Rosa Fiorentini hatte die Blumen auf dem Altar neu richten wollen und war schon zwei Stunden vor Beginn der Neujahrsmesse in der Kirche erschienen, um genug Zeit zu haben. Hektik war nicht ihre Sache. Als sie nun aber die Kirche betrat und die umgeworfenen Kirchenbänke, die Altarlüster und schließlich auch das Fehlen der Madonna bemerkt hatte, da wurde Rosa ganz anders zumute, und sie lief grell kreischend aus der Kirche hinaus und brüllte über den gesamten Platz: «Weg! Sie ist weg!» Das war zwar keine sehr präzise Aussage, aber immerhin schrie Rosa laut genug, damit Massimo seinen Kopf aus dem Fenster streckte und sie fragte, warum sie einen solchen Höllenlärm veranstaltete, noch dazu an einem Feiertag, und wer ihr denn bitte schön abhandengekommen sei.
«Die Madonna!», rief ihm Rosa zu. «Sie haben die Madonna gestohlen!» Dann rannte sie in Richtung Pfarrhaus davon.
Massimo stieß einen Fluch aus, schlüpfte in Hose und Hemd und stürmte, einen Schuh in der Hand, einen bereits am Fuß, hinüber zur Kirche. Massimos Frau telefonierte sofort mit ihrer Tante, die wiederum eine Cousine in Castello anrief, die dann ihren Sohn darüber in Kenntnis setzte, dass die Madonna von Treviso gestohlenworden sei. Der Sohn endlich, ein Cousin zweiten Grades von Vito Corrisi, dem Supermarktbetreiber von Treviso, rief diesen an, womit letztlich ganz Treviso über die Ereignisse der
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