Das Wunder von Treviso
das nächste Mal hier herumschnüffelt.»
«Meine Schwester?» Don Antonio war kurz davor, die Fassung zu verlieren.
«Jawohl, deine Schwester. Eine sehr kluge Frau, wenn du mich fragst.»
«Ich frag dich aber nicht.»
Seine Schwester also! Was in Gottes Namen hatte Maria vor?
14
Giorgio, der Neffe des Bürgermeisters von Treviso, war ein gutmütiger Mensch. Er liebte seine Mutter, er sammelte Fußballsticker und verschenkte sie dann an seinen kleinen Cousin, und seine Katze hatte er nach seiner ersten Liebe benannt: Jeannie, aus der gleichnamigenSerie «Bezaubernde Jeannie». Wenn es unbedingt sein musste und man ihn dringend brauchte, dann arbeitete er auch mal nach fünf Uhr nachmittags. Im echten Leben war Giorgio I T-Experte bei der Guardia di Finanza. Doch was zu viel war, war zu viel. Giorgio zitterte vor Wut.
«Ich reiß mir doch nicht wochenlang den Arsch auf, um für Treviso eine Homepage zu entwerfen, nur damit dann irgendwelche Trottel die Madonna entführen. Dann war ja alles umsonst!» Er war richtiggehend wütend und kippte vor lauter Verzweiflung über die sinnlose Zeitverschwendung, als die er die Arbeit für seinen Onkel nun betrachtete, einen Magenbitter hinunter, den ihm Massimo mitleidsvoll über den Tresen reichte.
Giorgio war nicht der Einzige, den die Entführung der Madonna aus der Fassung brachte. Im Grunde waren sich alle Bewohner Trevisos darüber einig, dass das Verschwinden der Statue einer mittleren Katastrophe gleichkam. Ohne Madonna keine Pilger, und ohne Pilger kein Fremdenverkehr, was bedeutete: keinen Souvenir-Shop, keinen erweiterten Restaurant- und Hotelbetrieb, keine Kundschaft in der schlechten Enoteca und schon gar keine finnischen Pilgerinnen mehr. Letzteres beschäftigte vor allem Giorgio, denn mindestens genauso wie das Verschwinden der Madonna bedauerte er das Verschwinden eines anderen weiblichen Wesens.
Giorgios Welt sah düster aus, seitdem Tarja aus Nokia wieder abgereist war. Sie hatte sich letztlich nicht zwischen den Medizinstudenten aus Valencia entscheidenkönnen und hatte somit vor lauter Unentschlossenheit eine Nacht mit dem überglücklichen Giorgio verbracht. Und obwohl Tarja kein Problem damit hatte, das Bett oder besser gesagt eine Matratze im Laderaum des alten Lieferwagens von Giorgios Vater mit ihm zu teilen, überkamen sie doch leichte Skrupel, als er sie nach ihrer Telefonnummer gefragt hatte.
«Ich schreibe dir!», hatte sie gesagt, bevor sie an jenem Morgen nach ihrer gemeinsamen Nacht in den Bus der Linie 174 gestiegen war, und erst als der Bus schon etliche Meter weit gefahren war, fiel Giorgio ein, dass sie weder seinen Nachnamen noch seine Adresse kannte. Also lief er wie ein Irrer hinter dem Bus her und schrie: «Schick die Post ins Rathaus, mein Onkel ist der Bürgermeister …»
Er war sich nicht sicher, ob Tarja ihn noch gehört hatte – auch weil er durch das Rückfenster des Busses sah, wie Ernesto Brasini sie in ein Gespräch verwickelte –, doch weil Giorgio ein Optimist war und weil er sich hemmungslos in Tarja verliebt hatte, war er von dem Gedanken nicht abzubringen, dass sie ihr Versprechen halten würde. Also hockte Giorgio in seiner Freizeit im Büro seines Onkels Mario, ging allen dort gehörig auf die Nerven und hoffte auf Post. Und wenn es seinem Onkel gar zu viel wurde, dann schickte er Giorgio zu Massimo hinüber und ließ ihn sich dort in aller Seelenruhe betrinken.
«Warum hat sie mir nur nicht ihre Nummer gegeben, Massimo? Ich verstehe das nicht …»
Massimo verstand es dagegen durchaus: «So sind die Frauen, mein Freund, sie hat dich benutzt, und das war es. Und mal ehrlich, es gibt Schlimmeres, als von einer bildhübschen neunzehnjährigen Finnin benutzt zu werden. Ich an deiner Stelle …» Doch vorsichtshalber ließ er den Satz unvollendet.
Giorgio winkte ab. Was half das schon? «Wenn ich vom Klo wieder da bin, will ich noch so einen!», sagte er, deutete auf sein leeres Schnapsglas und ging nach hinten. Vito, der gerade von der Toilette kam, sah ihm hinterher und bedachte Massimo mit einem fragenden Blick.
«Lass ihn, Vito. Er hat gerade zwei Frauen verloren – die eine hat ein Herz aus Holz und wurde entführt, und die andere hat eines aus Stein und ist einfach abgereist. Und von keiner wird er je wieder hören.»
Doch Massimo irrte sich, im Fall beider Frauen.
15
Natürlich rätselte ganz Treviso, wer denn in der Silvesternacht in die Kirche Santa Maria degli Angeli eingedrungen war
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