Das Yakuza-Mal
scharfer Gangart fort.
Schließlich erreichte Osgood das Ende des Wegs. Die graue Schiefermauer, die den Tempel umgab, ragte vor ihm als dunkler Schatten in die Nacht. Wein rankte sich an der Mauer entlang. Er blickte sich nach allen Seiten um und rannte dann über die Lichtung auf die Mauer zu, wobei er auf eine Stelle zuhielt, an der ihm die Weinranken besonders stabil erschienen. Hier wollte er hinüberklettern.
Osgood erreichte die Mauer und drückte sich einen Moment lang flach dagegen. Er war nicht außer Atem. Wann immer es ihm möglich war, joggte er an jedem Wochentag eine Strecke von drei Kilometern, zusätzlich absolvierte er ein rigoroses Gymnastikprogramm, das er selbst zusammengestellt hatte, und wann immer die Geräte dazu vorhanden waren, trainierte er mit Gewichten. Er war also fit. Prüfend zog er an den Weinranken. »Hier müßte es gehen«, murmelte er vor sich hin, steckte die Walther ins Holster und begann hinaufzuklettern. Oben angekommen - er schätzte die Höhe der Mauer auf rund sechs Meter
- traf er auf ein schmales Dach. Das konnte gefährlich werden - ein falscher Schritt, und ein Ziegel konnte zerbrechen und hinunterfallen.
Langsam stieg er auf allen vieren in Richtung Dachfirst und versuchte dabei, sein Gewicht so gleichmäßig wie möglich zu verteilen.
Der Dachfirst war abgerundet, aber aus demselben Material. Er konnte jetzt den Garten überblicken, und als die Wolkendecke aufbrach und das Mondlicht durchließ, nahm er den Innenhof in Augenschein. Er sah einen vollkommenen japanischen »Steingarten«. Er hatte erwartet, daß der Tempel mit Unkraut überwuchert sein würde, so wie auch die Mauer mit Weinreben überwachsen war. Aber allem Anschein nach wurde hier alles sorgfältig gepflegt, denn in einem Steingarten mußte ständig Unkraut gejätet werden. Außer in den dafür vorgesehenen kleinen Inseln innerhalb des Steingartens durfte nichts wachsen. Der Sand, der die Inseln umgab, mußte ständig geharkt werden, damit er eine gleichmäßige Fläche bildete und so die Meditation unterstützte.
Der Mond schien jetzt hell. Dieser Steingarten war erst vor kurzem bearbeitet worden.
Dann schoben sich die Wolken wieder vor den Mond, und der Garten lag erneut im Dunkeln. Aber für einen kurzen Augenblick sah er einen dunklen Schatten, der sich bewegte. Osgood erstarrte.
Eine kühle Brise kam auf. Er sah zum Himmel hinauf. In wenigen Minuten würden die Wolken wieder aufreißen. Osgood wartete. Er bemerkte, daß er den Atem anhielt. Der Wind wurde stärker, die Wolken wanderten, und es wurde hell. Im fahlen Mondlicht konnte er zwei Schatten ausmachen. Sie waren lebendig, hatten Form und Gestalt. Er wußte, was er sah, aber er konnte es nicht glauben.
Die beiden Gestalten waren dunkler als die Nacht, die sie umgab. Das hatte sie verraten. Sie bewegten sich entgegen dem Uhrzeigersinn durch den Steingarten. Allmählich erkannte er, daß die beiden Schatten nicht allein waren. An den Längsseiten des rechteckigen Steingartens standen weitere Gestalten aufgereiht. Die eine Reihe befand sich fast genau unter ihm, die andere ihm gegenüber. All diese Menschen waren schwarz gekleidet wie die beiden Männer in der Mitte.
In den Händen der beiden Figuren in der Mitte blitzte fast gleichzeitig Stahl auf. Im nächsten Moment würde das Duell mit daito und shoto beginnen. Das daito war das Langschwert, nach seiner Klinge auch katana genannt oder aber tachi, wenn es mit einem mit Haifischhaut überzogenen Griff und einer klassischen tsuba oder dem Stichblatt kombiniert wurde, die das klassische Samurai-Schwert der Legende bildeten. Das shoto oder waki zashi war das Kurzschwert, das klassische Tötungsmesser. Nur die modernsten Fechtschulen oder Ni-To-Ryu benutzten beide Klingen. Die beiden Gestalten in der Mitte kreuzten nun ihre Klingen. Obwohl er die Entfernung zwischen ihm und den beiden Kämpfern nicht ausmachen konnte, wußte Osgood, daß die Spitzen ihrer Klingen nicht mehr als zehn Zentimeter übereinanderragten — die klassische en garde -Position. Vor seinen Augen spielte sich ein jahrhundertealtes Ritual ab, der Kampf zweier Ninjas. Vielleicht handelte es sich um zwei verschiedene Clans, oder aber ein Mann hatte seinem Clan Unehre gebracht, und ihm wurde jetzt die Ehre zuteil, im Zweikampf zu sterben.
Osgood war klar, daß auch ihm diese Ehre zuteil werden würde, wenn man ihn entdeckte.
E regungslos liegen, denn bei jedem verräterischen Geräusch würden die Ninjas da unten
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