Das zarte Gift des Morgens
Diabetes. Es ist nur ein Insulinschock . . . Gleich kommt der Arzt und wird Ihnen das bestätigen.«
Der Chefkoch des »Rashomon«, Takeshi Sagamori, der den tückischen Fisch zerteilt und zubereitet hatte, stieß plötzlich einen heiseren Schrei hervor und stammelte etwas auf Japanisch, einer Sprache, die außer dem Geschäftsführer niemand verstand.
Katja hatte einige Mühe, in diesem erregtem Durcheinander Anfissa ausfindig zu machen. Sie saß auf einer Bank, bleich, erschrocken und verstört. Flüsternd berichtete sie Katja, was im Restaurant geschehen war.
»Alle denken, es ist der Fugu-Fisch«, sagte sie leise. »Aber ich bin überzeugt, Katja, ich habe so ein Gefühl . . . Es hat sich alles genau so abgespielt wie bei Lena Worobjowa. Das war keine Fischvergiftung. Das . . . ist das etwa wieder dasselbe? Sag, Pjotr wird doch nicht sterben?!«
Was hätte Katja ihr antworten können? Lessopowalow und Kolossow machten sich auf, den diensttuenden Arzt zu finden. Ein paar besonders durchtriebene Reporter versuchten, sich an ihre Fersen zu heften, aber auf die Intensivstation ließ man nur die Mitarbeiter der Miliz. Katja blieb zurück, in stillschweigender Übereinkunft mit Kolossow, um die Lage draußen vor der Intensivstation im Auge zu behalten. Plötzlich erblickte sie Saiko. Sie erkannte ihn sofort wieder. Er stand in einer Gruppe erregter Journalisten. Als er Anfissa und Katja in ihrer Milizuniform sah, kam er auf sie zu.
»Ich wusste nicht, Anfissa, dass Ihre Freundin bei der Miliz arbeitet«, sagte er und maß Katja von Kopf bis Fuß mit einem durchdringenden, prüfenden Blick. »Haben wir uns nicht schon auf der Beerdigung getroffen?«
»Getroffen schon, aber nicht kennen gelernt«, antwortete Katja knapp.
Saikos Anwesenheit hier im Krankenhaus beunruhigte auch sie. Wer weiß, vielleicht war es gar kein Märchen, was Simonow über ihn erzählt hatte.
»Was machen Sie hier?«, fragte sie ihn.
»Dasselbe wie alle anderen – ich stille meine Neugier.« Saiko grinste. »Ich war bei der Präsentation. Was für eine Fügung des Schicksals – ausgerechnet der bekannteste Restaurantkritiker Moskaus vergiftet sich an der Spezialität des Hauses. Die Kollegen vom ›Rashomon‹ können einem Leid tun. Denen steht jetzt alles das bevor, was wir schon durchgemacht haben.«
»Ja, wenn wirklich der Fugu-Fisch daran schuld ist«, sagte Anfissa. »Aber ich glaube . . . Katja, Pjotr war ja schon krank, als er herkam! Die ganze Zeit war ihm heiß, er bekam keine Luft und schwitzte sehr stark. Und da hatte er von diesem blöden Fisch doch noch gar nichts gegessen . . .«
»Anfissa, das können wir später besprechen«, unterbrach Katja sie.
»Störe ich?« Saiko blickte sie mit kaltem Spott an. »Schon gut, ich habe verstanden. Betrachten Sie mich als gar nicht mehr anwesend, es sei denn, Sie brauchen mich wieder als Zeugen . . . Übrigens, die Uniform steht Ihnen wirklich gut.«
Der diensttuende Arzt erschien in Begleitung von Kolossow und Lessopowalow und teilte mit, alle Anstrengungen, Mochow zu retten, seien vergeblich gewesen. Soeben sei er gestorben, ohne noch einmal zu Bewusstsein gekommen zu sein. »Alle Anzeichen deuten auf eine Vergiftung hin«, sagte der Arzt, »die Miliz ist schon hier, wir warten jetzt noch auf den Gerichtsmediziner.«
Wie wild wurde geknipst und geblitzt, die Journalisten umringten den Arzt und Kolossow und bestürmten sie mit Fragen. Lessopowalow verschluckte sich fast, als er wütend kläffte: »Kein Kommentar!« Der ebenfalls von allen Seiten belagerte Restaurantbesitzer Muchin versicherte immer wieder mit überschnappender Stimme: »Aber das kann keine Fischvergiftung sein! Es ist unmöglich, sich mit Fugu-Fisch zu vergiften – alle diese Schauergeschichten von seinem Gift sind nur Märchen! Fugu ist genau so ungefährlich wie Stör! Und außerdem ist unser Koch, Herr Takeshi Sagamori, ein erstklassiger Fachmann, er war an der Kaiserlichen Akademie für Kochkunst in Kyoto und ist mit einem Ehrendiplom ausgezeichnet worden!«
Da plötzlich wurden alle Schreie, Fragen und Ausrufe von einem verzweifelten heiseren Geheul übertönt. Der japanische Chefkoch des »Rashomon« rannte, laut schreiend und die im Weg stehenden Journalisten beiseite stoßend, den Krankenhauskorridor hinunter auf die Herrentoilette zu.
»Haltet ihn!«, schrie der Geschäftsführer des »Rashomon«, der ihn als Einziger verstehen konnte. »Takeshi-san, ich flehe Sie an, beruhigen Sie sich! Halten Sie
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