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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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einstöckiges Gebäude mit einem Ziegeldach, das direkt an den überdachten Swimmingpool des Sportcenters angebaut war.
    Im Garten sah es aus, so witzelte einer der geladenen Journalisten, »wie in Klein-Tokio« – Steine, Sand, Bäche mit huckligen kleinen Brücken, bauchige Laternen und Bonsai-Bäumchen in Tontöpfen. Der Sand stammte freilich nicht aus Japan, sondern aus dem nahen Kiefernwäldchen, die Brücken waren Fertigteile aus Kunststoff, in den Laternen brannten keine Kerzendochte, sondern Glühbirnen, und die kleinen Bonsai-Kiefern waren künstlich.
    Das alles bemerkte Anfissa nur flüchtig – sie hatte sich verspätet und bei ihrer Ankunft sofort Ausschau nach Mochow gehalten, denn ihr schien, als sei die heutige Verabredung mit ihm aus irgendeinem Grund sehr wichtig. Aber Mochow tauchte selbst erst in letzter Minute auf, obwohl er mit dem eigenen Auto kam und nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
    »Du siehst schlecht aus, Pjotr«, sagte Anfissa. Sie standen mitten unter den zahlreich erschienenen Journalisten und Gästen. Der Geschäftsführer des Restaurants hielt gerade seine Begrüßungsrede.
    »Mir ist heiß«, antwortete Mochow. Sein Gesicht zeigte eine ungesunde bräunliche Röte. Auf seinen Schläfen standen kleine Schweißperlen. »Ich bin auf dem Gartenring in einen Stau geraten.«
    »Von wo kommst du? Direkt von zu Hause?« Anfissa hakte sich bei ihm unter.
    »Musst du mich eigentlich immer so ausquetschen?« Mochow riss ärgerlich seinen Arm los.
    »Was hast du denn?« Anfissa wurde böse. »Ich bestelle wie ein dummes Schaf extra meine Freundin, und du . . .«
    »Was für eine Freundin? Ach, das . . . Ich hatte ganz vergessen, es dir zu sagen.« Mochows Worte klangen falsch. Er zog ein Taschentuch aus seinem Jackett und wischte sich die Stirn ab. »Ich konnte leider nicht kommen, ich hatte etwas Dringendes zu erledigen.«
    »Aber du hättest doch anrufen können, damit wir nicht auf dich warten. Es war doch dein eigener Wunsch, dass ich dich mit Katja zusammenbringe. Wolltest du ihr nicht etwas sagen?«
    »Gar nichts wollte ich, was setzt ihr mir nur alle immer so zu?« Mochow schaute Anfissa wütend an. »Überhaupt, es reicht mir, ich will davon nichts mehr hören! Verflucht, wie schwül es ist. . .«
    »Heute ist es aber schon viel frischer als gestern, nach dem Gewitter heute Nacht.« Anfissa sah Mochow von der Seite an. Sie wollte noch etwas sagen, aber in diesem Moment beendete der Geschäftsführer seine Ansprache, und die Gäste und die Presse wurden hineingebeten. Anfissa musste sich mit ihrer Arbeit beschäftigen – dem Fotografieren. Sie verlor Mochow für eine Weile aus den Augen.
    »Unser Restaurant hat seinen Namen weniger dem weltberühmten Film von Kurosawa zu verdanken«, verkündete der Geschäftsführer, während er die Gäste mit schwungvoller Geste hineinbat, »als vielmehr dem alten Rashomon-Tor, das allerdings im alten Japan einen gelinde gesagt etwas düsteren Ruf hatte. In den Turm des Rashomon-Tors wurden nämlich die Leichen der hingerichteten Räuber und gehängten Aufrührer gebracht. Sie sehen, meine Herrschaften, für einen Besuch bei uns braucht man, ha-ha«, der Geschäftsführer lachte laut, »starke Nerven.«
    Die Gäste und die Journalisten drängten lärmend auf den Speisesaal zu. Plötzlich hörte man erstaunte und erschrockene Ausrufe, dann Gelächter und Applaus. Anfissa bahnte sich mit ihrer Kamera einen Weg in die vorderen Reihen. Die Tür zum Speisesaal stellte eine verkleinerte Kopie des Tores von Rashomon dar. An dem Querbalken aus Eichenholz baumelte in einer Schlinge . . . ein Gehenkter. Wie die anderen Gäste vor ihr begriff auch Anfissa nicht sofort, dass es nur eine Puppe war – die Nachbildung eines Samurai mit einem bunt bemalten Plastikkopf.
    Blitzlichter flammten auf. Anfissa dachte, wie wenig dieses Restaurant ihrem geliebten »Al-Maghrib« ähnelte. Da erblickte sie unter den Gästen Lew Saiko – in einem eleganten weißen Anzug, eine teure Sonnenbrille auf der Nase, stand er mitten im Gewimmel und betrachtete den niedrigen, gemütlichen Raum, der in einzelne Sitzecken aufgeteilt war. Er bemerkte Anfissa, nickte ihr zu, lächelte. Und aus irgendeinem Grund – vielleicht war es dieses kalte, fremde Lächeln, vielleicht auch die in der Schlinge baumelnde angemalte Puppe, die so erschreckend einem Menschen ähnelte – wurde Anfissa plötzlich ganz unruhig. Sie hielt Ausschau nach Mochow -ob auch er Saiko schon gesehen

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