Das zarte Gift des Morgens
Samurai«, sagte der Geschäftsführer des Restaurants munter. »Aber ich darf Sie auch an ein altes japanisches Sprichwort erinnern – wer nur einmal vom Fleisch des Fugu-Fisches gekostet hat, der hat sich Unsterblichkeit erworben.«
»Wie ist das zu verstehen?«, rief einer der Journalisten.
»Die Weisheit des Orients besteht eben darin, dass jeder sie im Rahmen der eigenen geistigen Fähigkeiten deutet«, scherzte der Geschäftsführer. »Nun, meine Damen und Herren, wer ist am mutigsten?«
Mehrere Leute hoben ihre Hand, darunter auch Mochow. Anfissa wusste, er tat das nur aus Pflichtgefühl.
»Eine Portion kostet fast hundertvierzig Dollar«, hörte sie jemanden missgünstig sagen.
»Ah, Herr Mochow, ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Bitte sehr, als erster Restaurantkritiker Moskaus sollten Sie auch als Erster probieren.« Der Geschäftsführer lachte gutmütig über seinen Kalauer.
Die Bouillon war durchsichtig und roch wie russische Fischsuppe. Spargelspitzen schwammen darin, Sellerie, Porree, Erdnüsse, Pilze und weiße, wie Gummi aussehende Stückchen des Fugu-Fisches.
»Nichts Besonderes«, sagte Mochow zu Anfissa, nachdem er probiert hatte. »Was soll ich darüber in meinem Artikel schreiben? Von welchen Geschmacksnuancen? Aber nimm dir ruhig. Einen merkwürdigen Beigeschmack hat sie allerdings schon . . .«
Anfissa hielt Ausschau nach einer Kellnerin, um sich eine Portion bringen zu lassen. Schließlich wollte sie sich nicht bis an ihr Lebensende Vorwürfe machen, dass sie eine Suppe für hundertvierzig Dollar nicht probiert hatte.
»Meine Damen und Herren, ich freue mich, Ihnen mitzuteilen, dass Fugu ab heute ständig auf unserer Speisekarte steht. Und auch nur bei uns im ›Rashomon‹ bekommen Sie . . .«
Etwas schepperte laut. Alle Köpfe wandten sich um – auf dem Boden neben dem Tisch von Anfissa und Mochow lagen die Scherben eines zerbrochenen Sake-Schälchens.
»Entschuldigung, er ist versehentlich mit dem Ellbogen daran gestoßen. Aber Scherben bringen ja Glück.« Anfissa zog Mochow am Ärmel. »Pjotr . . .«
Aber Mochow antwortete nicht. Sein Körper krümmte sich plötzlich zusammen, bäumte sich dann auf, und Mochow fiel, als hätte ihn eine unsichtbare Hand an der Krawatte gezogen, nach vorn auf den Tisch. Mit dem Gesicht schlug er direkt auf den Teller mit der halb verspeisten Fugu-Suppe.
28
Anfissas Anruf erwischte Katja und Kolossow ganz unerwartet. Gerade erst hatte sich die Bürotür hinter Simonow geschlossen, und Nikita spulte das Band des Diktaphons zurück, um das aufgezeichnete Gespräch noch einmal anzuhören, da klingelte das Telefon.
»Katja, komm so schnell wie möglich her!«, schrie Anfissa mit ganz fremd klingender Stimme in den Hörer. »Ich bin im ›Rashomon‹ in Serebrjany Bor, ich war hier zusammen mit Mochow . . . Katja, ich weiß nicht, was passiert ist – aber er stirbt! Gerade eben hat ihn der Krankenwagen weggebracht. Und hier im Restaurant ist die Hölle los, alle Leute wollen weg, zum Arzt, ins Krankenhaus. Sie glauben, es ist eine Fischvergiftung. Aber ich bin sicher . . . Katja, das war nicht dieser Fugu-Fisch, sondern wieder . . . Um Gottes willen, komm her, ich habe solche Angst!«
Und so kam es, dass Katja, Kolossow und Lessopowalow, statt in aller Ruhe über ihre Giftmorde und die neue, unerwartete Wendung in diesem Fall zu diskutieren, alles stehen und liegen ließen und Hals über Kopf zum Sklifossowski-Institut rasten, wo Mochow auf der Intensivstation lag.
In der finsteren, einem Hangar ähnelnden Eingangshalle des Krankenhauses erblickte Katja ganze Scharen unbekannter Leute. Es waren die Journalisten, die bei der unglückseligen Präsentation zugegen gewesen waren, und fast alle Angestellten des »Rashomon« samt dem eiligst herbeigerufenen Besitzer des Restaurants, einem Herrn Muchin, und dem Chefkoch Takeshi Sagamori.
Die Journalisten lauerten gierig auf eine Sensation. Alle sprachen vom Fugu-Fisch – laut und im Flüsterton, ungläubig und mit ehrfürchtigem Schrecken. Das Erscheinen von Kolossow, Lessopowalow und Katja versetzte sie in noch größere Aufregung.
»Sie sind von der Miliz? Wieso die Miliz? Wer hat Sie gerufen?«, rief der unglückliche Geschäftsführer in tragischem Tonfall und rang die Hände. »Meine Damen und Herren, bitte beruhigen Sie sich . . . Ich versichere Ihnen, es war wirklich nicht nötig, die Miliz zu holen. Herr Mochow hat einen Schwächeanfall erlitten. Wie viele von Ihnen wissen, leidet er an
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