Das zarte Gift des Morgens
hatte?
Gäste und Journalisten wurden in die Küche gebeten. Es begann der Hauptteil der Show: Demonstration und Verkostung der mit Fugu-Fisch zubereiteten Speisen. In der riesigen, einem Ballsaal gleichenden Küche erwartete die Journalisten eine ganze Armee von Köchen in schwarzen Kimonos und Stirnbändern. An einem langen Tisch aus Kiefernholz wurden wie am Fließband die Sushi geformt. Der Geschäftsführer gab seinen lebhaften Kommentar dazu und erläuterte, dass im »Rashomon« für Sushi und Sashimi nur die besten Sorten Lachs und Thunfisch verwendet würden -»Blue Fin« und fangfrischer Umaki-Aal.
Die Gäste probierten die runden Reisbrote mit rohem Fisch. Anfissa verstaute ihre Kamera in der Hülle. Ein Koch in schwarzem Kimono reichte ihr Sushi vom Gelbschwanz.
»Guten Appetit«, flüsterte jemand Anfissa ins Ohr. Es war Saiko, der neben ihr stand. Mit einer energischen Geste schob er den Gelbschwanz zurück und wählte Stattdessen ein Sushi-Omelett. »Essen Sie das, Anfissa.«
»Wie kommen Sie denn hierher, Lew?«, fragte Anfissa und kaute auf dem Reis und dem rohen, mit Meerrettich scharf gewürzten Fisch.
»Genau wie Sie, auf Einladung.« Saiko wandte sich an den Koch im Kimono. »Pawel, reichen Sie meiner Bekannten diese Delikatesse.«
Der Koch reichte Anfissa eine geschichtete Rolle auf einem geflochtenen Tellerchen.
»Sie kennen hier sicher viele Leute?«, fragte Anfissa.
»Mit einigen von den Jungs habe ich früher zusammengearbeitet«, antwortete Saiko und nahm seine Sonnenbrille ab. »Da wollte ich mir natürlich mal ansehen, wie es hier aussieht – ein neues Lokal ist immer verlockend.«
»Wollen Sie das ›Al-Maghrib‹ denn verlassen?«
»Ich?« Saiko schaute ihr zu, wie sie aß. »Nein. Habe ich etwas in der Art gesagt?«
»Es kam mir so vor.« Anfissa senkte den Blick. Sie wurde selten verlegen, genauer gesagt, sie erlaubte sich eine solche Freiheit in der Öffentlichkeit nicht, aber dieser Blick – hartnäckig, ohne Blinzeln, wie aus Porzellan – irritierte sie. »Was starren Sie mich so an? Ist das so ein schauriger Anblick -eine kauende dicke Frau?«
»Ich schaue Sie oft an, Anfissa, wenn Sie bei uns sind. Von einem Gast, wie Sie es sind, kann ein Koch wie ich nur träumen.«
War das nun ein Kompliment oder eine Unverschämtheit – es blieb Anfissa unklar. Saiko war schon wieder verschwunden. Dafür tauchte Mochow auf. Anfissa erblickte ihn in einer Gruppe von Journalisten, die sich um eine Anrichte versammelt hatten, auf der ein älterer Koch, ein Japaner, mit einem riesigen Messer einen Fugu-Fisch säuberte. Der Fisch sah aus wie ein schwarzgelber Luftballon und bot mit seinem dicken Bauch, dem kurzen Schwanz und den hervorquellenden Augen einen gruseligen Anblick. Der Geschäftsführer, der ebenfalls zur Stelle war, schilderte voller Begeisterung, wie göttlich dieser Fisch schmecke und wie tödlich sein Gift sei. Der japanische Koch schlitzte dem Tier mit einer gewandten Bewegung den Bauch auf, holte die Innereien heraus, entfernte den Schwanz und die Flossen, schnitt den Kopf ab und löste die Haut. Alle diese Teile legte er in einen besonderen Beutel, auf dem ein Etikett mit der Aufschrift »Gift« klebte. Wie der Geschäftsführer erklärte, wurden diese Abfälle nicht in den Müllschacht geworfen, sondern verbrannt. Der Fugu-Fisch oder genauer das wenige, was von ihm noch übrig war, wurde in gleichmäßige kleine Stückchen zerteilt. Daraus sollte jetzt die scharfe Kaisersuppe gekocht werden.
Während das Gericht zubereitet wurde, bat man die Gäste wieder in den Speisesaal und verteilte sie auf die Tische. Geishas in bunten Kimonos servierten Sake und Pflaumenwein.
Anfissa trank den Wein mit großem Appetit. Der neben ihr sitzende Mochow rief schon zum dritten Mal die Kellnerin, um die nächste Schale Sake zu bestellen. Sie schaute ihm ins Gesicht. Er sah wirklich nicht gut aus.
»Ist dir immer noch so heiß?«, fragte sie.
»Gleich ist alles vorbei, dann fahren wir nach Hause«, sagte Mochow. »Ich bin heute nicht besonders in Form . . . wahrscheinlich der Blutdruck . . .«
»Aber trotzdem, warum hast du Katja und mich gestern versetzt? Überhaupt, Pjotr, ich wollte dich schon längst fragen . . .«
Er blickte sie nur abwesend an und knöpfte sich den Hemdkragen auf. Seine Stirn war schweißbedeckt. In diesem Augenblick wurde die Kaisersuppe in den Saal getragen.
»Unsere Gäste brauchen die starken Nerven und die Selbstbeherrschung eines echten
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