Das zarte Gift des Morgens
irgendeinen Termin, eine Präsentation oder so was.« Katja schüttelte erstaunt den Kopf. »Merkwürdig. Das heißt, was im Al-Maghrib passiert ist, war ihm wichtiger.«
»Na, es geschieht ja auch nicht alle Tage, dass man mit eigenen Augen sieht, wie persönliche Bekannte ins Jenseits befördert werden. Was wunderst du dich darüber, Katja? Du bist doch genauso. Ich sage nur ein Wort – Reporter.«
»Er ist Restaurantkritiker.«
»Weiß ich ja«, brummte Kolossow. »Trotzdem ein Zeitungsfritze.«
Im Auto berichtete Katja mit wenigen Worten, was sie im Restaurant gesehen hatte.
»Deine Freundin hat dich also selbst dorthin mitgenommen? Wozu? Nur zum Mittagessen? Worüber habt ihr gesprochen?«
»Natürlich über unseren Fall«, antwortete Katja. »Aber es war ein rein privates Gespräch, von Frau zu Frau.«
»Was heißt hier privat und von Frau zu Frau?« Kolossow hupte ärgerlich – sie steckten schon wieder in einem Stau. Es war halb acht, Rush-Hour.
»Ich möchte nicht, dass du Anfissa vorlädst«, sagte Katja. »Jedenfalls nicht jetzt. Es geht ihr gar nicht gut. Studnjow hat sie schändlich behandelt. Aber trotzdem kann sie ihn nicht vergessen. Es ist sehr schwer für sie.«
»Willst du damit sagen, sie hatte etwas mit ihm? Diese Dampfnudel?«
»Na und?«, brauste Katja auf. »Was gibt es da zu grinsen? Wenn du es wissen willst – sie ist hundertmal mehr wert als dein vergifteter Blödmann! Er hat ihr wehgetan, er hat sie gekränkt. Wie ein Schuft hat er sich ihr gegenüber benommen. Jetzt glaubt sie, ihr Männer seid alle so . . .«
»Welche Mücke hat dich gestochen, Katja? Willst du damit sagen, deine Freundin hatte ein Motiv, diesen Typen umzubringen?«
Katja schwieg. Dann sagte sie: »Hast du ein Foto von Studnjow? Ich würde gern mal einen Blick drauf werfen, ich habe ihn ja noch nie gesehen.«
An der Ampel reichte Nikita ihr ein kleines Foto. Es war zusammen mit anderen persönlichen Dingen in Studnjows Wohnung in Stolby beschlagnahmt worden.
Katja betrachtete das Bild lange und kritisch. Dann gab sie es Nikita zurück. Mit einem tiefen Seufzer stellte sie sich Anfissa mit diesem Typen zusammen vor . . . Rattenkönig war gar kein schlechter Spitzname gewesen.
Das Haus, in dem sich Jelenas Wohnung befand, lag am Ende eines mit staubigen Pappeln bepflanzten Hofes. Ein Einsatzbeamter und zwei zivile Zeugen saßen bereits wartend auf einer Bank unter dem großen bunten Pilz, der den Sandkasten überdachte, und langweilten sich sichtlich.
»Die Tür muss aufgebrochen und anschließend versiegelt werden. Die Besitzerin ist nicht auffindbar. Sie hat die Wohnung vermietet und ist dann spurlos verschwunden«, erklärte der Beamte mürrisch, »und mit ihr die Wohnungsschlüssel!«
»Schlüssel habe ich.« Kolossow hielt einen Schlüsselbund hoch. »Die waren in der Handtasche der Toten. Wenn sie passen, ist es jedenfalls mit Sicherheit ihre Wohnung.«
Die abgeschabte Tür öffnete sich verdächtig leicht. Sofort war klar: Hier hatte Jelena Worobjowa gewohnt. An einem Garderobenhaken in der Diele hing nachlässig eine rote Chiffonbluse wie eine zerknitterte rote Flagge. Nikita erkannte sie wieder: Gestern hatte die Kellnerin sie noch getragen.
Katja war entsetzt über den Schmutz und Mief in der Wohnung: mit Fettflecken übersäte, sich lösende Tapeten, eine schmuddelige Zimmerdecke, ein uralter Herd, trübe, ungeputzte Fensterscheiben.
Möbel gab es nur wenige. In dem einen Zimmer war allerlei alter Plunder zusammengerückt, aufeinander gestapelt und mit Stricken zusammengebunden. Im anderen Zimmer standen ein Kleiderschrank, ein breites zweischläfriges Sofa und ein Toilettentisch. Auf dem Fußboden lag ein einsamer Teppich aus unechter Schafswolle, hellblau eingefärbt. Der Schrank war alt, das Sofa und der Teppich neu, offensichtlich von Ikea. Auch die Bettwäsche stammte von dort, in modischem Stahlgrau, aber seit langem nicht gewaschen. Der hellblaue, seidene Bettüberwurf war elegant, aber schmutzig und voller rotbrauner Flecken. Katja blickte Kolossow fragend an: War das etwa Blut?!
»Wein«, sagte er und kratzte an einem Fleck. »Genau, Rotwein.« Er bückte sich und zog unter dem Bett eine verstaubte Flasche »Beaujolais Village« hervor. Gleich daneben standen nagelneue Damenpantoletten aus Frottee in Form von rosa Häschen.
Katja öffnete den Schrank. Auf spröden, abblätternden Kleiderbügeln hingen Damensachen: Hosen, eine Max-Mara-Bluse, eine Windjacke von Reebok, eine
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