Das zarte Gift des Morgens
Jogginghose, ein ärmelloses Sommerkleid und zwei Kostümchen von Naf Naf, ein paillettenbesetztes Kleid von Max & Co., T-Shirts und Wäsche von Sisley. Die Kombination von heruntergekommenem Schrank und teuren, schicken Kleidungsstücken zeugte davon, dass Jelena Worobjowa hier zwar gewohnt, sich aber nicht wirklich häuslich eingerichtet hatte. Katja setzte sich auf die Sofakante. In diesem seltsamen Zimmer hatte man nichts getan, nicht gearbeitet, nicht aufgeräumt, nur geschlafen. Das Bett war das dominierende Möbelstück.
»Ich seh mir mal die Küche an«, sagte Nikita und nahm die leere Beaujolais-Flasche mit.
Katja nickte: Ich komme gleich nach. Sie betrachtete den Toilettentisch – ein vorsintflutliches Stück mit Schublade, der Spiegel allerdings war neu. Katja zog die Schublade auf: meine Güte, so viele Kosmetika! Und auch alles sehr gute Sachen, teure Markenartikel. Zwischen den Kosmetiktüchern schaute ein Päckchen Präservative hervor. Zur Hälfte verbraucht. Katja schob die Schublade wieder zu. Vor dem Spiegel stand auf einem flachen Kerzenständer aus Metall eine Kerze, die aussah wie ein grüner Ziegelstein. Das heruntergetropfte Wachs strömte einen angenehmen zarten Duft aus – Veilchen und Ylang-Ylang. Auf dem Boden, zwischen Tisch und Sofa, schimmerte etwas matt. Katja bückte sich und hob eine goldene Kette mit einem Anhänger auf.
Die Kette hatte dort gelegen, als ob . . . Katja streckte den Arm nach dem Toilettentisch aus. Ja, jemand hatte die Kette abgenommen und auf den Tisch legen wollen, aber sie war heruntergefallen. Sie schaute sich den Anhänger an. Was stellte er dar? Mit dem Anhänger einer Halskette hatte dieses Ding wenig Ähnlichkeit. In die goldene Fassung war auf der einen Seite etwas eingelegt. . . eine Patronenhülse. Auf der anderen Seite war das Bild des Heiligen Georg eingraviert: Ein winziger Krieger auf einem winzigen Ross besiegt einen mikroskopisch kleinen Drachen.
»Katja, komm doch bitte mal her!«, rief Kolossow aus der Küche.
Katja nahm ihren Fund vorsichtig in die Hand, um ihn Kolossow zu zeigen, und bemühte sich, den Anhänger selbst nicht zu berühren. Kolossow war damit beschäftigt, die Küche zu durchsuchen. In seinem Gesicht standen Ärger und Enttäuschung.
»Reiß dich mal einen Moment los und schau dir das an.« Katja gab ihm den Anhänger. »Sieht nicht aus wie der Schmuck einer Frau. Eher eine Art Talisman. Es lag auf dem Boden vorm Bett. Wer könnte in einer so scheußlichen Wohnung einen goldenen Talisman liegen lassen?«
»Die Worobjowa war ja von irgend jemandem schwanger«, sagte Nikita, während er die Kette betrachtete.
»Anfissa hat mir gesagt, dass sie ein Verhältnis mit Simonow hatte, das ist der Geliebte der Restaurantchefin Potechina. Sie haben sich heimlich getroffen. Ich glaube, er trinkt, dieser Simonow.«
»Und mir hat Mochow gesagt, dass der Koch Saiko ein Auge auf Jelena geworfen hatte.« Nikita seufzte. »Da soll sich einer zurechtfinden. Eine Patronenhülse, sieh mal an . . . Die stammt aus einer Makarow. Dieser Heilige, der Georg, wen beschützt er eigentlich, außer den Moskauern natürlich?«
»Soldaten, Reisende, England . . .«
»Soldaten . . . In der Küche werden ja gewöhnlich keine Schlachten geschlagen, und was das Reisen angeht. . . Aber ein hübsches Stück. Das kommt zu den Akten.« Kolossow schaute sich verächtlich um. »Das ist vielleicht eine Küche! Ich habe versucht, wenigstens ein paar Krümel Essbares zu entdecken, aber Fehlanzeige, nichts zu finden.«
Katja sah sich um: Auch hier war alles alt und schäbig. Nur der elektrische Wasserkocher und der Toaster auf dem Tisch waren neu. Allerdings standen auf dem alten, fettverschmierten und seit Ewigkeiten nicht geputzten Herd eine nagelneue Pfanne und ein Teflontopf. Katja schaute unter die Deckel – leer. Auf der Spüle stand eine Müslipackung »Nüsse mit Honig« und ein Glas Pulverkaffee. Im Spülbecken lagen schmutzige Teller und zwei Tassen.
»Das ungespülte Geschirr nehmen wir mit.« Kolossow packte bereits vorsichtig alles in Beutel.
Katja öffnete den Kühlschrank. Er summte und klirrte unnatürlich laut, weil auch er fast leer war – zwei Eier in einem Schüsselchen, ein Becher Joghurt, zwei Bananen, ein grüner Apfel, ein Glas Mayonnaise, eine Packung Saft. Katja seufzte -ein nur allzu vertrautes Bild.
»Nikita«, sagte sie, »was trinkst du morgens, wenn du auf stehst?«
»Wasser.« Kolossow polterte mit den Bratpfannen in Backofen
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