Das zarte Gift des Morgens
seinen Hals war ein Schal gewickelt. Er hielt sich ein Sofakissen vors Gesicht und lugte wie ein verschüchtertes Mäuschen dahinter hervor.
»Was hast du denn?« Beim Anblick seines blassen erschreckten Gesichtchens bohrte sich wieder die Angst in Auroras Herz wie eine rostige Nadel. Als sei Gefahr im Verzug . . .
»Sag ihm, er soll Weggehen«, flüsterte Kirjuscha und zeigte auf den Schrank.
Aurora schaute in die Richtung, in die das Kind wies. Die untergehende Sonne, die ungehindert durch die nachte Fensterscheibe schien, blendete sie, und zuerst konnte sie gar nichts sehen. Aber als ihre Augen sich angepasst hatten und sie begriff, was das war, schrie sie erschrocken auf, rannte zum Schrank und zerrte ihren älteren Sohn Dimka hervor. Dimka trug eine Vampirmaske aus Gummi, die ihm vor langer Zeit einmal ein Bekannter Gussarows mitgebracht hatte.
»Mach das ja nicht noch mal!« Aurora nahm dem Jungen die Maske weg. »Du sollst deinen Bruder nicht so erschrecken, er ist doch krank!«
»Krank, krank . . . Immer redet ihr nur von ihm.« Dimka schaute finster zu seiner Mutter empor. »Oma bringt sich fast um für ihn, bloß weil er krank ist. . .«
»Als du krank warst, war ich auch die ganze Zeit bei dir. Weißt du noch?«
»Nichts weiß ich, und überhaupt, wozu sind wir eigentlich hier?« Dimka ließ sich nicht beruhigen. »Hier stinkt es aus dem Klo. Und wo ist Papa? Wann fahren wir endlich nach Hause zu Papa?«
»Wir fahren nicht mehr zu Papa«, sagte Aurora scharf, milderte aber sofort ihren Ton und fügte hinzu: »Wir ziehen von hier in eine neue Wohnung. Sehr bald. Wir alle – ihr beide, Oma und ich. Ihr werdet ein großes sonniges Zimmer bekommen, so wie zu Hause, sogar noch schöner. Und ganz viele neue Spielsachen.«
Der kleine Kirjuscha lauschte verzaubert und hatte seine Angst schon vergessen. Er griff nach der Maske, die Aurora immer noch in der Hand hielt.
»Gib sie mir, Mama, gib sie mir!«
»Nein, dieses widerliche Ding werfe ich jetzt sofort in den Mülleimer.« Aurora ging entschlossen in die Küche. Beide Kinder begannen zu brüllen, das ältere ebenso wie das jüngere. Auroras Mutter kam angelaufen: Was war denn nun schon wieder los?
Die Kinder schrien durcheinander: »Ich will sie haben, gib sie mir, gib sie mir!« Aurora ließ die Maske einen Moment lang los. Sofort schnappte sie sich der kleine Kirjuscha, setzte sie auf, hüpfte über die Kissen, bellte, blökte und krähte, um die Oma zu erschrecken.
Da klingelte erneut das Telefon.
»Mama, um Himmels willen, beruhige sie, lies ihnen irgendein Märchen vor!«, schrie Aurora möglichst laut, um Kinder und Telefon zu übertönen.
»Ich will den Zinnsoldaten!«, rief Kirjuscha. Vor lauter Begeisterung gelangen ihm nicht alle Buchstaben, und heraus kam ein »Sinnsoldat«.
»Nein, Harry Potter!«, protestierte sein aufgeklärterer Bruder.
Das Telefon schrillte wie verrückt. Aurora war überzeugt, dass es wieder Madame Ljaguschkina vom »Moskauer Stadtgespräch« war.
»Hallo! Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen mich nicht mehr anrufen!«
»Hier ist Major Kolossow, Mordkommission«, sagte eine etwas verdattert klingende Baritonstimme in den Hörer. »Guten Tag, Aurora, wir haben zwar schon einmal miteinander gesprochen, aber das haben Sie mir nicht gesagt.«
»Entschuldigen Sie, ich dachte, es sei jemand anders.« Aurora wurde verlegen. »Natürlich, ich erinnere mich an Sie. Ist etwas passiert?«
»Ich muss unbedingt mit Ihnen reden. Es ist ziemlich dringend. Passt es Ihnen am Montag um zehn? Allerdings habe ich eine große Bitte. Sie wissen doch, Studnjow wohnte in Stolby. Ich möchte mich dort mit Ihnen treffen. Ich gebe Ihnen jetzt die Adresse des Milizreviers von Stolby durch. Wissen Sie, Sie sind hier in Moskau sehr bekannt, eine prominente Persönlichkeit, die Presse interessiert sich lebhaft für Sie. Daher glaube ich, es wäre besser, wenn Sie nicht mehr ins Präsidium kommen.«
»Ja, Sie haben Recht«, stimmte Aurora zu. »Geben Sie mir die Adresse. Aber trotzdem, was ist passiert?«
Kolossow rief die Sängerin aus dem Auto von seinem Handy aus an, nachdem er Katja nach Hause gebracht hatte. Eigentlich hatte er auch ihren Mann Gussarow zum Verhör bestellen wollen. Aber den musste er erst noch ausfindig machen.
Auf der Rückfahrt nach Moskau hatte Katja die ganze Zeit nur über Simonow gesprochen: Wieso er aufgetaucht war, wie seltsam er sich benommen hatte, warum er nicht zum Grab gegangen war, warum er Mochow
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