Das Zauberer Handbuch
unsterbliche Heldenfiguren geschaffen hat, ohne bis dahin je in den USA gewesen zu sein. Natürlich, wird mancher jetzt einwenden, hatte es der geschätzte Kollege May leichter, denn in Good Old Germany wusste damals noch kaum jemand, wie es jenseits des Atlantiks aussah, also konnte May im Grunde schreiben, was er wollte, solange er sich dabei an bestimmte Rahmenbedingungen hielt. Das stimmt absolut – aber genießen wir nicht genau diesen Vorteil auch in der Fantasy?
Welcher Leser ist vor Tolkien in Mittelerde gewesen? Oder wer hat den Palast von Ethera und die Eiswüste von Jordråk besucht, ehe ich die SPLITTERWELTEN geschrieben habe? (Ja, wer von euch war das? Wenn ich den erwische, der das Palasttor hat offen stehen lassen …) Als Fantasy-Autoren genießen wir den immensen Vorteil, die Erbauer unserer eigenen Welten zu sein, und das nicht nur im übertragenen Sinn wie die Kollegen anderer Genres, sondern ganz konkret. Geografie, Klima, Tier- und Pflanzenwelt – all diese Dinge erfinden wir und schaffen uns damit unsere eigenen Gesetzmäßigkeiten. Der entscheidende Nachteil an der Sache freilich ist, dass wir diese Gesetzmäßigkeiten, sobald sie einmal festgelegt sind, nicht mehr ändern können. Ganz wichtig speziell für Fantasy-Autoren ist deshalb noch eine dritte Art der Recherche – nämlich die bei sich selbst.
Gerade weil wir es in unserem Genre häufig mit Welten und Kreaturen zu tun haben, die unserer eigenen Phantasie entspringen, sowie mit Handlungen, die oft über mehrere Bände greifen, ist es wichtig, dass wir zu jedem Zeitpunkt den Überblick über unsere Schöpfung behalten. Eines nämlich ist ganz sicher: Fantasy-Leser sind nicht nur die kreativsten weit und breit, sie sind auch sehr sensibel und aufmerksam, was Fehler oder Ungenauigkeiten in der Handlungskontinuität betrifft. Nicht selten wird man bei Lesungen darauf hingewiesen, dass dieses oder jenes nicht funktionieren könne oder in Widerspruch zu etwas stünde, was man in Band eins der Trilogie geschrieben habe – man tut also gut daran, über alle Charaktere und auch über die fiktiven Welten, die man ersinnt, genauestens Buch zu führen.
Ob dies ganz herkömmlich in handschriftlicher Form erfolgt, ob man ein eigenes Notizbuch oder einen Ordner anlegt oder ob man, wie ich es beispielsweise bei der bei Lübbe erschienenen SARAH KINCAID-Reihe getan habe, mit Karteikarten arbeitet – wichtig ist, dass alle Charaktere, alle Ereignisse und natürlich die Eckdaten der Schauplätze zuverlässig verwaltet werden, damit man zu jeder Zeit wieder darauf zurückgreifen kann. Natürlich kann man all diese Notizen auch in digitaler Form anlegen, was den Vorteil hat, dass man entsprechende Begriffe sehr viel schneller findet. Welche Form der Archivierung jemand benutzt, ist ganz ihm selbst überlassen – wichtig ist nur, dass sie zuverlässig erfolgt und so strukturiert ist, dass sie auch mit einem oder zwei Jahren Abstand funktioniert, denn man weiß ja nie, wann man in jenen Kosmos zurückkehren wird.
Wie man bei der Erstellung einer solchen »neuen Welt« vorgehen kann, damit werden wir uns im zweiten Teil dieses Handbuchs beschäftigen. Vorerst soll es nur darum gehen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass uns unsere eigene Schöpfung nicht entgleitet – Stolperfallen gibt es nämlich viele, und keiner von uns ist dagegen gefeit. Mit Grausen erinnere ich mich beispielsweise an einen Schnitzer, der mir in DIE RÜCKKEHR DER ORKS unterlaufen ist: Dem Kopfgeldjäger Corwyn, einem der Helden der Geschichte, wird in einer dramatischen Szene von dem verräterischen Ork Graishak das linke Auge ausgestochen, was ihn aber nicht daran hindert, später beide Augen aufzureißen. Und auch die Augenklappe wechselte schon mal die Seiten – ein Beispiel dafür, dass man im großen Ganzen nie den Überblick über die kleinen Dinge verlieren sollte. Und möglichst keinem seiner Helden ein Auge aussticht.
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Die Heldenrüstung
Bevor sich der klassische Fantasy-Protagonist auf den Weg macht, wird er gemeinhin mit einer Ausrüstung versehen, nicht selten auch mit zauberischen Gegenständen oder magischen Waffen: verwunschene Schwerter, zauberkundige Bücher, unfehlbare Pfeile, heilende Kräuter, wundertätige Steine – die Liste ist endlos. Natürlich tut auch der Autor gut daran, sich ordentlich auszurüsten, ehe er sich auf die große kreative Reise begibt. Dazu gehört ganz simples Handwerkszeug ebenso wie manche Geheimwaffe, deren
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